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Partitur des Todes

Partitur des Todes

Titel: Partitur des Todes
Autoren: Jan Seghers
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alte Dame. Sie hatte höfliche Umgangsformen, sie konnte mit einem Fremden plaudern, ohne dass peinliche Pausen entstanden, und sie konnte scherzen, ohne ihr Gegenüber zu verletzen. Wie er selbst schien sie noch ganz dem alten Jahrhundert anzugehören.
    Offensichtlich hatte Madame Delaunay beschlossen, das Fernsehteam vollständig zu ignorieren. Sie hatte weder Valerie noch die beiden Männer begrüßt, sie hatte ihnen nichts zu trinken angeboten, sie hatte sie bis zu diesem Moment nicht mal eines Blickes gewürdigt.
    So wares Valerie, die jetzt versuchte, auf sich aufmerksam zu machen. Sie hatte die Hand gehoben und schaute Christine Delaunay an.
    «Wir sind so weit», sagte sie. «Wir können anfangen zu drehen. Wenn Sie jetzt so freundlich wären, uns zu berichten, was es mit dem Umschlag für Monsieur Hofmann auf sich hat.»
    Die alte Frau nickte. «Gut. Das Fernsehen ist so weit.Aber das Fernsehen wird sich einen Moment gedulden müssen. Bevor ich Ihnen den Umschlag gebe, werde ich eine Geschichte erzählen. Sie dauert nicht lang.Alles, was Sie jetzt hören, habe ich von meinem Vater erfahren. Er hat es mir erzählt, als ich noch fast ein Kind war.»
    Christine Delaunay griff nach ihrer Kaffeetasse, führte sie zum Mund, setzte sie aber wieder ab, ohne getrunken zu haben. Dann begann sie mit ihrem Bericht.
    «Als mein Vater von den Deutschen verhaftet wurde, war er ein kräftiger Mann von Mitte dreißig. Er war Sportler; er hat gerudert und Tennis gespielt. Mein Vater kam aus einer wohlhabenden Familie. Uns allen ging es gut – dieses Haus hier war sein Elternhaus. Nach seiner Verhaftung brachte man ihn ins Lager Drancy, weil er Geld für die Résistance gesammelt hatte. Er war verraten worden von jemandem, den er für seinen Freund gehalten hatte. Schon zwei Wochen später wurde er in einem Eisenbahnwaggon nach Auschwitz gebracht. Es war einer der letzten Konvois, die das Lager in Richtung Osten verließen», erklärte sie und schloss dann die Augen.
    «Da mein Vater sowohl französisch als auch polnisch, aber auch deutsch und ein wenig ungarisch sprach, schickte man ihn nicht wie die meisten anderen sofort ins Gas, sondern setzte ihn als Dolmetscher ein. Es ging ihm besser als den meisten anderen Häftlingen, und immerhin hater überlebt.Aber als er zurückkam, war er eine lebende Leiche. Man hat ihn zugrunde gerichtet. Weniger durch das, was man ihm angetan hat, als durch das, was er mitansehen musste.
    Dann ist die RoteArmee nach Westen vorgerückt; die Zustände im Lager wurdenimmer chaotischer. Jetzt hatte es die SS eilig. Sie wollten die Spuren verwischen. Sie haben die Krematorien abgebaut und sie in andere Lager geschafft. Im Januar1945 haben sieAuschwitz geräumt. Die Gefangenen wurden nach Westen getrieben. Zurück blieben nur die, die zu krank oder zu schwach waren. Und die, die sich um die Kranken kümmerten.»
    Erst jetzt öffnete Christine Delaunay wieder dieAugen. Ihr Gesicht hatte sich verändert. Sie war blass und wirkte noch schmaler als zuvor. Nun wandte sie sich wieder an Georges Hofmann.
    «In diesen letzten Tagen lernten sich unsere Väter kennen. Ihr Vater hat als Häftling im Krankenbau gearbeitet. Dort hatte er sich beieinem der Patienten angesteckt. Er litt unter Fieber und schwerem Durchfall und wurde von Stunde zu Stunde schwächer. Er wusste, dass er nicht überleben würde.Als die RotarmistenAuschwitz bereits erreicht hatten, starb er.»
    Christine Delaunay beugte sich nach vorne und griff unter den Tisch. Sie zog einen dicken braunen Umschlag hervor und streckte ihn Georges Hofmann entgegen.
    «Das hier hat er meinem Vater gegeben. Er hat ihn gebeten, es Ihnen auszuhändigen, wenn es ihm irgendwann gelingen sollte, Sieausfindig zu machen. Das ist alles, was ich weiß. Ich habe keineAhnung, was sich in dem Umschlag befindet.»
    Reflexartig hatte Georges Hofmann den Umschlag an sich genommen, hielt ihn jetzt aber in den Händen wie einen ganz und gar fremden Gegenstand, wie etwas, das ihn nichts anging.
    «Und meine Mutter?», fragte ermit einer Stimme, die so leise war, dass man sie kaum verstand.
    «Ihre Eltern waren zunächst im Ghetto von Lodz. Später hat man sie nachAuschwitz gebracht. Gleich nach derAnkunft sind sie getrennt worden; Ihr Vater hat Ihre Mutter nie wiedergesehen.»
    Georges Hofmann nickte. Nichts von dem, was er gehört hatte, überraschte ihn wirklich. Er hatte sich all die Jahrzehnte dagegen gewehrt, über das Schicksal seiner Eltern nachzudenken.Aber jetzt
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