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Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)

Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)

Titel: Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)
Autoren: Anthea Bischof
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mehr durch Unruhen auffielen. Im Bericht war keine Rede davon, wie es zur Ausschreitung gekommen war, es wurde nur der Hergang einer wüsten Keilerei beschrieben, die sich vor dem Laden abgespielt und zur Plünderung geführt hatte. Vincent und Curdin beschlossen, dass ersterer den Weg nach La Chacarita wohl noch einmal unter die Füsse nehmen müsse, erstens, um die Lücken im Bericht bei der Polizei zu klären und zweitens, um die Familien im Quartier zu besuchen, Hilfe anzubieten und gegebenenfalls mehr herauszufinden. Vincent dachte an die düstere junge Frau, die er am Vortag kennengelernt hatte und verspürte wenig Lust dazu.
     
     
    Manolo stand an der Strasse vor seinem Laden. Es sah seltsam aus. So menschenleer. Wo war nur seine Frau? Sie hätte doch nach den Waren sehen sollen. Manolo blickte nach der Türe seines Ladens, sie stand offen, aber niemand ging hinein. Er musste noch die neuen Waren ordnen, Preise anbringen, die Päckchen ins Regal stellen und Obst und Gemüse vor der Türe in Kisten ausstellen. Er musste noch die Regale abstauben, das hätte er schon viel eher tun sollen.
    Ein Mann kam um die Ecke und ging an Manolo vorbei. Er sah ihn nicht an und grüsste nicht. Manolo kannte das schon. Es geschah, wenn die Leute ihm böse waren, weil die Preise gestiegen waren. Manchmal kamen auch gar keine Lieferungen, daran konnte auch er nichts ändern. Er musste in den Keller gehen und nach den Vorräten sehen. Vorräte, die stapelten sich in staubigen Säcken im dunklen, feuchten Keller, in dem es nach Salz und Sand roch. Fast wie am Meer dachte Manolo. Er war einmal am Meer gewesen. Er hatte auf den Horizont geblickt und die Ferne vor sich gehabt. Er hatte sich gefragt, wie es jenseits des Wassers aussah. Der Sand unter ihm war warm gewesen, gemütlich, einladend, so als sollte Manolo immer da bleiben. Die Wellen hatten friedlich an Land geschlagen und es hatte nichts zu tun gegeben, keine Pflichten, keine Aufgaben. Keine Ladenkundschaft. Aber das Meer und der Horizont und das Land jenseits des Horizonts waren nicht in der Nähe und Manolo hätte nicht gewusst, wie er nach demselben gelangt wäre. So musste das Jenseits bleiben, wo Manolo nicht war, denn der Weg wäre zu weit und Manolo hatte viele Dinge zu tun, er konnte nicht einfach weg. Er musste hier bleiben und für Ordnung in seinem Laden sorgen. Das war seine Aufgabe. Das hatte er immer getan. Das war so. Das blieb so.
    Manolo blickte auf die Strasse vor seinem Laden. Seltsam. So menschenleer. Wo seine Frau war?
    Manolo dachte an die Säcke im Keller und die halbleeren Regale, den Staub und stand an der Strasse.
     
     
    Vier Tage nach der Plünderung stand Vincent wieder an der Strassenkreuzung am Rande La Chacaritas. Vor der Ruine des Ladens schloss seinen Geländewagen ab, sicherte das Vorhängeschloss am Ersatzrad und setzte die Sonnenbrille auf. Nun galt es, kluge Fragen zu stellen. Wenn es ihm nicht gelang, den Meinungsmacher ausfindig zu machen, so wären alle die Bemühungen des Hilfswerks völlig nutzlos.
    Vincent trug das kurzärmlige Kaki-Hemd offen, das Emblem des Roten Rings diesmal gut sichtbar auf der Brust zur Schau gestellt. Besser, er würde nicht mit der Polizei in Verbindung gebracht. Es mochte ihm nicht viel helfen, aber vielleicht ein wenig vom Misstrauen abschöpfen, dem er sich nun gegenübersehen würde. Er konnte darauf vertrauen, dass kein Staatsbeamter und gewiss kein Polizist ohne besondere Aufforderung hierher kamen. Im modernen, schönen Asunción ging man davon aus, dass hier jeder bewaffnet, schwerkrank und ansteckend war. La Chacarita war ein Symbol anarchischen Lebens, hässlicher inzestuöser Beziehungen und ungeregelten Erwerbs. Vincent war seinerseits zum Schluss gekommen, dass die Leute die Vergehen derer am besten kannten, mit denen sie nie gesprochen hatten.
    So schlenderte er unbedarft die Gasse entlang, eine unbefestigte Schneise zwischen den wellblechbedachten Häuschen. Baukastenartig reihten sich die Behausungen aus Sperrholz, Wellblech und Backsteinen unregelmässig aneinander, wodurch eine Art Durchgänge entstanden. Überall wucherten Schlingpflanzen und üppiges Kraut bekleidete den sandigen Boden. In den Höfen war bunte Wäsche aufgehängt und Buben in Fussballtrikots sammelten sich im Schatten. Gegenüber der wohlbegrünten Innenstadt fehlten hier die Strassenhändler und die omnipräsente Polizei des Stadtzentrums. Hier glänzten keine gläsernen Fassaden mit kolonialer Pracht um die Wette.
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