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Papierkuesse

Papierkuesse

Titel: Papierkuesse
Autoren: Pali Meller
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als Juden denunzierten Arbeitgeber musste Franzi zu gefährlich erschienen sein, so dass sie ohne Nachricht oder Abschied mit den Kindern nach Falkensee geflüchtet war. In der am westlichen Berliner Stadtrand gelegenen Ortschaft hatte sie mit den beiden Kindern Unterschlupf bei Familie Gilgenberg gefunden, die abseits vom Berliner Machtzentrum ebenfalls in einer »privilegierten Mischehe« mit ihrer kleinen Tochter Gisela lebte. Franzi hatte die zum Katholizismus konvertierte Jüdin Sofia Gilgenberg in der Ballettschule von Tatjana Gsovsky kennengelernt, wo die beiden Mädchen Gisela und Barbara zusammen in der Meisterklasse trainierten. Trotz der eigenen Bedrohung hatte Sofia Gilgenberg nicht gezögert, die drei von heute auf morgen in ihrem kleinen Haus mit aufzunehmen. Ihr Mann Paul Josef, der als Architekt für Siemens in Speyer arbeitete, richtete einen Kellerraum für die beiden Kinder her, der gleichzeitig als behelfsmäßiger Luftschutzkeller diente. Dank eines geheimen Warnsystems, das einige Bürger Falkensees, darunter der Pfarrer und ein SS-Offizier, eingerichtet hatten, wurden die beiden Frauen vor jeder Razzia gewarnt, um das Haus rechtzeitig verlassen zu können. Gegenüber den Kindern hieß es, sie unternähmen einen Kinobesuch in Berlin, um sich aber tatsächlich bei einemNachbarn zu verstecken. Während die beiden Mädchen so weit wie möglich von der bedrohlichen Wirklichkeit abgeschirmt wurden, musste Pila als Ältester der Kinder in die Situation eingeweiht werden, um im Notfall entsprechend reagieren zu können. Als die Gestapo eines Tags vor der Tür stand, erklärte er absprachegemäß, dass beide Mütter nach Berlin ins Kino gefahren seien, worauf die Männer unverrichteter Dinge wieder abzogen. Unter dem Druck der Angst und Bedrohung weihte Pila aber schließlich Gisela in das Geheimnis ihrer jüdischen Herkunft ein, das sie bis über das Kriegsende hinaus wahrten.
    Während die Kinder in Falkensee neue Freunde fanden und zur Schule gingen, wurde Pali am 28. Oktober überraschend ins Polizeipräsidium am Alexanderplatz verlegt. Die Überführung vom Zuständigkeitsbereich der Justiz in den der Polizei betraf nicht nur Pali Meller. Vermutlich gehörte er zu jener ersten Gruppe von Strafgefangenen, die der neu ernannte Reichsminister der Justiz, Otto-Georg Thierack, in geheimer Absprache mit Heinrich Himmler vom 18. September 1942 zur »Vernichtung durch Arbeit« vorgesehen hatte. Von Anfang November 1942 bis April 1943 wurden fast 15   000 Gefangene vor Ablauf ihrer regulären Haftzeit an die Polizei übergeben und in Konzentrationslager überführt. Schon vor dieser »generellen Abgabe« hatte es immer wieder Versuche der Gestapo gegeben, sich bestimmter Gefangengruppen, insbesondere jüdischer Häftlinge, zunächst nach, dann auch vor ihrer Freilassung zu bemächtigen. Entsprechend belief sich die Gesamtzahl jüdischer Häftlinge zu diesem Zeitpunkt auch nur nochauf eine kleine Minderheit. Dem Historiker Nikolaus Wachsmann zufolge gab es selbst in Berlin, wo traditionell die meisten Juden in Deutschland lebten, Anfang 1942 nur noch 89 jüdische Justizgefangene.
    Schnell war Palis kurze Hoffnung auf Entlassung geschwunden, als er zehn Tage später über die Burgstraße in ein Evakuierungslager gebracht wurde, das sich in einem ehemaligen jüdischen Altersheim in der Alten Hamburgerstraße befand. Von hier gelang es ihm, weitere Kassiber an Franzi herauszuschmuggeln, die über seinen ungewissen Haftverlauf in Polizeigewahrsam berichteten. Immer noch klammerte er sich an die Hoffnung, dass er aufgrund seiner »privilegierten Mischehe« nicht deportiert werden könne, weil dafür keine gesetzliche Handhabe vorlag. Tatsächlich war auch nach der Auflösung einer Mischehe durch Scheidung oder Tod des nichtjüdischen Ehepartners der hinterbliebene jüdische Partner noch immer relativ geschützt, sofern er minderjährige Kinder hatte. Zwar traf diese Konstellation auf die Familie von Pali Meller zu, aber da die »Privilegien« nur für reichsdeutsche Juden galten, war seine Situation so gut wie hoffnungslos.
    Obwohl bereits zwei Transporte das Lager Richtung Polen verlassen hatten, galt seine größte Sorge nicht der drohenden Deportation, sondern der Ungewissheit über den Verbleib seiner Familie. Nachdem auch der fünfte Brief seit seiner Verlegung nach Berlin unbeantwortet geblieben war, wandte sich Pali in zunehmender Verzweiflung an Marlene Poelzig mit der dringenden Bitte, seine Nachricht
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