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Papierkuesse

Papierkuesse

Titel: Papierkuesse
Autoren: Pali Meller
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der das in Seenot geratene Schiff steuerte, sie galt Pali als sein gottgegebener»Arm zum Handeln«, sein »großes Glück«. Denn sie musste den Kindern nicht nur die Eltern, sondern auch das Heim ersetzen, das er als »Heimstättenbauer« nicht hatte errichten können. Voller Dankbarkeit, in die sich nur ganz leise Skrupel mischten, legte Pali das Schicksal seiner Kinder in die strengen Hände von Franzi, der er im Vorfeld der Verhandlung eine Generalvollmacht und die Vormundschaft für seine Kinder übertragen hatte (s. S. 97).
    Pali schien sich mit erstaunlicher Gefasstheit in sein ungewisses Schicksal zu fügen. Einerseits wollte er die Kinder nicht das Ausmaß seiner Sorgen und Nöte spüren lassen, andererseits musste er mit der Zensur sämtlicher Briefe rechnen, was eine offenherzige oder gar kritische Schilderung seiner Situation ausschloss.
    Tatsächlich erging es Pali in den ersten fünf Monaten seiner Untersuchungshaft – bis auf den ständigen Hunger – noch relativ gut. Im März 1942 wurden erneute Lebensmittelkürzungen vorgenommen, die für erhebliche Unruhe in der Bevölkerung sorgten. Von den drastischen Rationierungen, die am 6. April bekannt gegeben wurden, war auch die ohnehin schon karge Gefängniskost betroffen. Doch es gab einen regelmäßigen Briefverkehr zwischen ihm und den Kindern, zunächst wöchentlich, dann nur noch alle zwei Wochen. Insgesamt sind 17 Briefe aus den 27 Wochen in Plötzensee erhalten, zwei weitere sind offenbar an den Sender zurückgegangen, weil sie möglicherweise zu umfangreich waren oder die Zensur nicht passiert hatten. In umgekehrter Richtung wurde mindestens einer von etlichen Kinderbriefen wegen ungebührlichen Umfangs nicht ausgehändigt. Aufdem Postweg konnten auch Fotos, Briefumschläge und Zeichnungen mitgeschickt werden. Neben dem Briefverkehr bestand jeden zweiten Montag eine Besuchsmöglichkeit, die Franzi regelmäßig nutzte, um die gewünschten Zeichenutensilien oder Sanitärartikel mitzubringen. Der Brief- und Besuchsrhythmus unterbrach den streng geregelten und monotonen Alltag, den Pali mit Lesen, Zeichnen und Basteln verbrachte, da für die Untersuchungshäftlinge keine reguläre Beschäftigung oder Arbeit vorgesehen war. Immerhin konnte er die Gefängnisbibliothek nutzen und sich mit anderen Gefangenen austauschen, wie die mehrfache Erwähnung eines Mithäftlings namens Hans belegt. Er wurde zum Freund und Vertrauten, »einem lebenden Märchenbuch«, mit dem Pali nicht nur die Liebe zu Kunst und Literatur, sondern auch die wöchentliche Kinderpost teilte.
    Von Anfang an schrieb Pali seine Briefe an die beiden erst sieben- und elfjährigen Kinder im Bewusstsein der großen Bedeutung, die dieser schriftliche Gedankenaustausch einmal haben würde. Dabei versuchte er immer wieder sowohl den kleinen Ereignissen im Alltag der Kinder als auch seiner väterlichen Verantwortung aus der Ferne gerecht zu werden. Als Pädagoge war Pali ein ehrgeiziger und ambitionierter Bildungsbürger, der größten Wert auf die Ausbildung seiner Kinder legte. Abgesehen von dem ordentlichen Schriftbild und der korrekten Schreibweise, die er stets anmahnte oder lobte, galt sein Augenmerk einer musisch künstlerischen Erziehung. So nahm er regen Anteil an Barras Tanz- und Akrobatikausbildung, interessierte sich für die Zeugnisse der Kinder, ermutigte Pila in dessen dichterischenVersuchen mit einfühlsamen, wenn auch etwas schulmeisterlichen Verbesserungsvorschlägen, mahnte ihn zur körperlichen Ertüchtigung und erörterte berufliche Fragen mit ihm. Als alleinerziehendes Familienoberhaupt war Pali ein unternehmungslustiger Kamerad, der von Fahrrad- und Zelttouren schwärmte, ein aufgeschlossener Avantgardekünstler, der der Fantasie seiner Kinder keine Grenzen setzten wollte, ein ratgebender Freund, der seinen Kindern die schweren, aber nicht die eigenen Erfahrungen abnehmen wollte, vor allem aber war er ein liebevoller und zärtlicher Vater. Dass ihm bei dieser Aufgabe nicht nur Franzi, sondern auch die Kraft einer differenzierten und bisweilen poetischen Sprache zu Gebote stand, war für ihn Trost und Ansporn, für die Kinder Herausforderung und Prägung.
    Immer wieder reflektierte er in seinen Briefen über die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache, indem er diese in Beziehung zum Gedanken, zum Gefühl und zur Dichtung setzte. Dabei zeigte sich nicht nur seine eigene Sprachbegabung, sondern auch das Interesse an den sprachphilosophischen Themen seiner Zeit, die er den
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