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Papa

Papa

Titel: Papa
Autoren: Sven I. Hüsken
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wahrscheinlich die Stadt verlassen hat. Ich denke, er wird versuchen, so weit von hier wegzukommen, wie irgend möglich.« Sie glaubte selbst nicht an das, was sie da sagte.
    Lilly war an Michelle herangetreten und wirbelte sie unsanft herum. »Das
glaubst
du? Tom wird da weitermachen, wo er aufgehört hat. Er wird zu uns kommen, und wir werden sterben. So wie die anderen. Dieses Mal wird uns keiner retten. Er wird sich nicht viel Zeit lassen.«
    Michelle antwortete nicht gleich. Ihre Tochter war nicht dumm, und niemandem war mit Lügen gedient. Aber die Wahrheit würde ihr Leben wieder um zwei Jahre zurückwerfen.
    Zwei Jahre und ein paar Tage. Das durfte nicht passieren.
    »Bei jemandem wie Tom wird man die ganze Polizei mobilisieren. Die haben ihn, noch bevor du heute Abend ins Bett gehst«, versicherte sie ihrer Tochter. »Dein Vater hat ihn einmal geschnappt, er wird es auch ein zweites Mal tun.«
    »Ich geh nur ins Bett,
wenn
er heute Abend gefasst ist. Keine Minute vorher, das schwöre ich.«
    Michelle nahm Lilly zärtlich in den Arm, spürte ihren pulsierenden Körper und dachte an die Zeit, als ihre Tochter noch ein kleines Kind war. Nun liefen die Tränen unaufhaltsam, brennend wie Salzsäure. »Mach dir keine Sorgen, Lilly. Wären wir in Gefahr, würde die Polizei uns schützen lassen. Wir wurden nur informiert, damit wir nicht das Gefühl haben, übergangen worden zu sein.«
    Ihre Tochter löste sich aus der Umarmung, setze sich aufs Sofa und legte die Beine auf den Tisch. »Wie kann man aus einer Anstalt fliehen? Ich dachte, die wäre so enorm sicher?«
    Michelle wischte sich über das Gesicht, schubste im Vorbeigehen Lillys Beine vom Tisch und setzte sich in den Sessel gegenüber. »Jedes Sicherheitssystem kann umgangen werden. Tom war nie dumm. Er hatte zwei Jahre lang Zeit, sich alle Sicherheitsvorkehrungen ganz genau anzuschauen. Vielleicht hat einer der Sicherheitsleute einen Fehler gemacht? Tom konnte schon immer gut mit Menschen umgehen. Wahrscheinlich hat er allen gezeigt, was für ein guter Mensch er doch eigentlich ist. Nein«, sie schüttelte energisch den Kopf, »für Leute wie Tom gibt es keine Anlage, die sicher genug ist.«
    Lilly zog die Beine bis zum Kinn und schlang die Arme darum. »Und was machen wir jetzt?«
    »Wir lassen uns nicht unterkriegen, okay? Wir fahren jetzt einkaufen, und danach lenken wir uns mit ein paar guten Filmen ab. Was meinst du? Lassen wir uns von diesem Scheißkerl den Jahrestag vermiesen?«
    Lilly schaute im ersten Augenblick fassungslos. Dann stahl sich ein Grinsen in ihr Gesicht, das zu einem Lachen wurde. »Nein, das tun wir ganz bestimmt nicht. Der kann uns mal.«
    Michelle stimmte in das Lachen ein. »Außerdem musst du mir noch ausführlich erzählen, wer der Junge ist, mit dem du da gechattet hast? Sieht er gut aus?«
    »Gut? Traumhaft sieht er aus. Und er spielt Gitarre in einer Band. Und das Beste: Alle Mädchen aus meiner Klasse stehen auf ihn.«
    »Und es gibt ihn wirklich? Es gab da mal eine Zeit, da hast du dir auch eingebildet, ein Huhn säße auf deinem Kleiderschrank.«
    Lilly boxte Michelle sanft gegen die Schulter. »Hey«, sagte sie empört, »da war ich sechs oder so. Für den Kommentar musst du mir bis spätestens Montag etwas zum Anziehen kaufen. Hast du mal in meinen Kleiderschrank geschaut? Es sieht aus, als hättest du noch ein kleines Mädchen versteckt und ihre Kleider heimlich in meinen Schrank gestopft.«
    Michelle folgte ihr in den Flur. »Das habe ich nur für den Fall gemacht, dass du mich nervst. Dann kann ich dich ohne weiteres gegen ein liebes, kleines Mädchen eintauschen, das sich vorstellt, auf ihrem Schrank säße ein Huhn, das Eier legt.« Dafür kassierte Michelle einen weiteren Klaps, und sie genoss es. An einem Tag wie heute war sie für jede Ablenkung dankbar.
    Sie zogen sich ihre Jacken über, schnappten sich einen Schirm und verließen die Wohnung, ohne sich noch einmal umzublicken. Der einsetzende Regen verlangte nach jeglicher Aufmerksamkeit. Die graue Stimmung kam zurück und drückte auf Michelles Gemüt, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte. Dennoch würde sie heute alles tun, um Lilly einen schönen Tag zu bereiten.
    Ein Jahrestag mit ausnahmsweise guten Erinnerungen könnte den Bann brechen, den Tom auf sie gelegt hatte.
    Vielleicht war diese beängstigende Situation genau das Richtige. Wenn am Abend der erlösende Anruf kam, würden sie zufrieden wie lange nicht mehr ins Bett fallen.
    Dies würde
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