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Palast der Stürme

Palast der Stürme

Titel: Palast der Stürme
Autoren: Alyssa Deane
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Menschenverstand, gepaart mit einer guten Portion Humor. Daher stammten wohl die feinen Fältchen um seine Augen und um die sonnengebräunte Haut um seinen Mund herum, die sich beim Lächeln zeigten. Unter dem Verdeck und in den purpurroten Schatten der Gebäude, die die Straße säumten, wirkte das Blaugrau seiner Augen dunkler. Er kniff leicht die Augen zusammen, wahrscheinlich eine Gewohnheit, die vom häufigen Blinzeln in die grelle Sonne herrührte.
    Plötzlich wandte er sich ihr zu und fing ihren Blick auf. Sie sah rasch zur Seite, und ihr schneller Atem verriet, wie unangenehm es ihr war, dass er sie erwischt hatte.
    »Sie vertrauen Fremden sehr schnell, nicht wahr?«, stellte er unvermittelt fest.
    »Wie bitte?« Sie drehte ihm ruckartig ihr Gesicht wieder zu.
    »Ich meinte, dass Sie Fremden gegenüber sehr vertrauensvoll sind.«
    »Sie spielen sicher auf die Ansammlung am Hafen an«, erwiderte Roxane spitz. »Diese Menschen schienen alle harmlos zu sein.«
    Der Mann lachte und schüttelte leicht den Kopf. Dann verschwand sein Lächeln und machte einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck Platz. »Oh nein, Miss Sheffield«, sagte er schließlich. »Ehrlich gesagt meinte ich damit mich selbst.«
    Erschrocken beugte Roxane sich auf ihrem Sitz vor. Einen flüchtigen Augenblick lang erwog sie, ihm die Zügel aus der Hand zu reißen. Wenn sie ihn damit aufhalten könnte, würde sie es tun. Doch dann setzte sie sich wieder zurück und straffte die Schultern. Die Sonne hatte mittlerweile bereits die Hälfte ihres Wegs zum Zenit zurückgelegt, und einige warme Strahlen fielen an dem Verdeck der Kutsche vorbei auf ihren entblößten Unterarm. Rasch schob sie ihren Hut über die nackte Haut und sah den Captain ruhig an.
    »Wollen Sie damit andeuten, dass ich Ihnen nicht vertrauen kann, Sir?«
    »Das wollte ich damit nicht sagen«, erwiderte der Captain. »Aber Sie sind eine sehr hübsche junge Dame, die sich allein in einem Land befindet, das eine halbe Weltreise von ihrer Heimat entfernt liegt …«
    »Sie übertreiben die Entfernung, Sir.«
    »Nicht sehr«, entgegnete der Captain. »Wenn man die Sitten und Gebräuche und die Kultur berücksichtigt, ist die Entfernung gewaltig …«
    »Aber Sie sind Engländer, Sir«, unterbrach sie ihn wieder. »Wenn ich mir wirklich Sorgen machen müsste, was ich bezweifle, dann über die Tatsache, dass Sie ein Fremder sind. Allerdings sind Sie ein Landsmann von mir, und daher sollte ich ein ehrenhaftes Benehmen und gute Manieren von Ihnen erwarten können, nicht wahr?«
    »Nicht unbedingt«, meinte er.
    Roxane schwieg und runzelte die Stirn. »Ich habe Sie für einen Gentleman gehalten«, sagte sie unverblümt, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte. »Wie ich sehe, habe ich mich dummerweise getäuscht. Wären Sie so freundlich und würden die Zügel anziehen, damit ich aussteigen kann? Ich werde meinen Weg auch allein finden.«
    »So wie vorher?«
    »Ich kannte die genaue Adresse nicht und wusste nicht, wie ich dem einheimischen Fahrer mein Ziel mitteilen sollte.«
    »Und jetzt wissen Sie es?«, konterte er.
    Roxane streckte das Kinn in die Höhe. Ihr Profil wirkte trotzig und kühl, aber trotzdem sehr anziehend. »Nein«, gab sie zu. »Ich weiß es nicht.«
    Captain Harrison wandte sich grinsend ab. »Ehrlichkeit steht einer Frau viel besser als ein unsicher vorgebrachtes Gegenargument«, stellte er fest. »Es tut mir leid, dass ich Sie aufgebracht habe, aber Sie schienen einfach zu naiv zu sein, um …«
    »Naiv?«, wiederholte Roxane wütend. Wie konnte er es wagen, ihr zu unterstellen, dass sie sich nicht allein zurechtfand? Selbst die Eigenarten eines fremden Landes konnte man meistern oder zumindest verstehen. In der Vergangenheit war sie, wie sie vorher bereits in Gedanken festgestellt hatte, sehr gut fast ohne Hilfe zurechtgekommen, und sie würde sich zweifellos mit allem, was Indien zu bieten hatte, ohne Schwierigkeiten anfreunden können. Sie setzte an, um ihm all das so direkt wie möglich zu sagen.
    Captain Harrison hob beschwichtigend die Hand. »Sie müssen mir das nicht erklären, Miss Sheffield. Ich bewundere Ihren Mut. Nur wenige Frauen hätten in einer solchen Situation, in der ich Sie vorher kennengelernt habe – allein und nicht in der Lage, sich verständlich zu machen –, so viel Humor bewiesen wie Sie. Tatsächlich war es großartig. Aber ich befürchte, dass Sie schon bald einiges in diesem Land und im Verhalten der Menschen, die es bewohnen,
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