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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine
Autoren: Brigitte Riebe
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zu gehen.
    Aber obwohl Merope versuchte, sich mit dem Unabänderlichen abzufinden, konnte sie dennoch die innere Stimme nicht zum Schweigen bringen. Die Stimme, die unüberhörbar forderte, ihre Wanderung zum Gipfel möge niemals zu Ende gehen.
    Als er zurückkehrte, beide Arme voller Reisig, hatte sie bereits den Steinkreis für das Feuer vorbereitet. Nun schichtete sie die Zweige auf. Astro bestand darauf, selbst die Funken aus dem Feuerstein zu schlagen, und sie lobte ihn für seine Geschicklichkeit. Im Schein des Feuers saßen sie sich wenig später gegenüber und aßen ohne viele Worte. Sie reichte ihm Brot und Olivenpaste, und, anstelle des Wassers, einen kleinen Lederbeutel voll geharzten Weins, aus dem er gierig trank.
    Das macht dich noch müder, mein Sohn, dachte sie. Und schenkt dir schöne Träume.
    Schon bald rollte sich der Junge in seine Decke und schlief ein. Die Frau saß noch eine ganze Weile am Feuer, bevor sie sich langsam erhob und, einen glühenden Span in der Hand, sich auf den Weg machte.
     
    Dann stand sie wieder im heiligen Hain, den sie seit ihrer Flucht in die Weißen Berge nicht mehr betreten hatte. Behutsam, zaghaft fast, berührte sie mit ihrer Hand die rauhen Stämme der Zypressen. Den Kopf an die rissige Rinde gelehnt, sog sie den vertrauten, leicht bitteren Geruch ein. Und vor ihr entstand deutlich das Bild der zitternden Novizin, deren ungelenken Händen das sichelförmige Mondmesser damals beinahe entglitten wäre. So viele Jahre waren vergangen, so vieles hatte sie erlebt, seit jener ersten Nacht im Hain!
    Milchig und fern stand der Mond der Frühjahrswende an einem funkelnden Sternenzelt. Reglos blickte sie zu ihm hinauf und lauschte dem Schrei einer Eule. Westwind frischte auf, zerzauste ihr Haar und ließ sie plötzlich erschaudern. Sie rieb die Füße aneinander, die sie von den Reisestiefeln befreit hatte, und zog den Umhang enger über ihrer Brust zusammen.
    Vergib mir, Große Mutter, dachte sie, ich bin heute nicht richtig bei der Sache. Meine Gedanken fliegen wie eine Schar aufgescheuchter Vögel zurück in die Vergangenheit und versuchen, das Dunkel der Zukunft zu durchdringen. Mein Herz wird schwer, wenn ich an den Weg denke, der vor Astro liegt. Den Weg, von dem so viel für uns alle abhängt. Ich weiß, seine Zeit ist gekommen. Aber ich fürchte nichts mehr als den Augenblick, wenn er in das Dunkel der großen Höhle tritt. Dann verliere ich den Sohn, den ich nicht geboren habe. Dann bin ich wieder allein.
    Sie sprach ein flüsterndes Gebet und spürte, wie sie ruhiger wurde. Nun war sie bereit für die Zeremonie, die sie seit den Tagen ihrer Einweihung jedes Jahr am Ende des Winters vollzogen hatte. Merope richtete ihre Aufmerksamkeit auf den großen, runden Stein. Ihre Hand berührte leicht den Kranz silbriger Disteln, den sie um ihn gewunden hatte. Dann ließ sie sich mit gekreuzten Beinen vor ihm auf der Erde nieder. Auch durch den doppelten Schutz von Kleid und Mantel fühlte sie die aufsteigende Kälte des harten, unebenen Bodens. Nach einem letzten Blick zum Mond schloß sie die Augen und atmete tief ein.
    Himmelsherrscherin, betete sie, Du älteste Tochter der Zeit! Dein Auge ist gewaltig, es schaut auf die Erde nieder. Dein göttlicher Leib ist das Universum, Deine Weisheit ist tiefer als das Meer. Schenke Deinen Kindern die Gnade des wiederkehrenden Lichts, das uns Leben und Fülle gibt!
     
    Und dann gab es nur noch den Stein und die Priesterin, die eins war mit dem Lebensstrom der Erde. Wärme durchflutete ihren Körper, heiß strömte es aus Fuß- und Fingerspitzen, und sie spürte nicht mehr den kühlen Frühlingswind. Ihre Arme und Beine bildeten einen festen Kreis, der immer dichter wurde, bis sie ganz aus Stein war. Brüchiger und rauher Fels zunächst, den man hart vom Berg gebrochen hatte. Weicher geschmirgelt und poliert und immer glatter mit den Jahren, regengewaschen, sonnendurchglüht, auf einer langen Reise durch die Flüsse, durch die Meere, von Tieren besiedelt, von Menschenhand abgegriffen, in einem Meer von Zeit.
     
    Wie aus weiter Ferne kam sie schließlich in ihren Körper zurück. Sie berührte ihn mit beiden Händen.
    Ja, ich bin eine alte Frau geworden, dachte Merope wehmütig. Ich war schon damals nicht mehr jung, als Mirtho mir den Neugeborenen in die Arme legte und wir ihm den Namen Astro gaben.
    Die alten Bilder stiegen in ihr auf, und sie sah sich wieder in mondloser Nacht zu dem kleinen Hafen laufen, den wimmernden Säugling vor
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