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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine
Autoren: Brigitte Riebe
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doch vermißt, obwohl er mich nie nach ihm gefragt hat, nicht ein einziges Mal in all den Jahren! Es war, als ob er schon immer etwas geahnt hätte. Sein Vater, der Weiße Stier aus dem Meer, der ihn gezeugt hat …
    »Ich wünsche dir eine glückliche Weiterfahrt, Kapitän«, sagte sie laut. »Danke, daß du uns so sicher hierhergebracht hast.«
    »Die Göttin schütze euch«, antwortete der alte Seemann seltsam befangen, musterte sie ernst und zauste Astro den braunen Schopf. »Paß gut auf dich auf, Junge!«
    Vorsichtig kletterten die beiden die baumelnde Strickleiter hinab. Ein junger Mann, kaum älter als Astro, ruderte sie schweigend ans Ufer. Im flachen Wasser stieg er aus und schob Boot und Insassen zum Strand. Als sie ihm etwas Wachs anbieten wollte, wehrte er ab.
    »Der Kapitän hat schon für alles gesorgt.«
    Dann zog er sein Boot weiter auf den nassen Strand.
    Merope blickte sich ein letztes Mal nach der Kymbe um. Am Bug leuchtete ein gemaltes Auge im Sonnenlicht. Wie das allwissende Auge der Göttin, die über die alte Höhle wacht, dachte sie. Große Mutter, die Du allein die Macht hast, zu binden und zu lösen, die Wege der Sterne zu bestimmen und über die Winde zu befehlen, behüte Schiff und Mannschaft auf ihrer Reise nach Ägypten!
     
    Sie marschierten zügig und hatten schon bald die Ebene verlassen, als Astro über Hunger und Durst klagte. Sehr still war er den ganzen Weg über gewesen, sein Gesicht blaß und verschlossen. Im Schein der Nachmittagssonne machten sie Rast, aßen Käse und Fladenbrot sowie eine Handvoll getrockneter Feigen und tranken Wasser aus einem nahen Bach. Merope sah ihm zu, wie er mit großem Appetit jeden Bissen verschlang. Als er sie schließlich um getrocknetes Fleisch bat, lehnte sie freundlich, aber bestimmt ab.
    »Es ist nicht gut, wenn du so kurz vor dem Ziel noch Fleisch ißt. Denk daran, daß du schon ab morgen fasten mußt.«
    Vor dem Hunger mußt du keine Angst haben, mein Sohn, dachte sie, als sie seinen fragenden Blick spürte. Der vergeht schnell. Aber dann kommen die alten Bilder. Du wirst erkennen, wer du bist. Und was deine große Aufgabe sein wird.
    »Laß uns noch ein Stück gehen, bis der Abend hereinbricht«, forderte sie ihn auf. »Dann suchen wir uns einen Platz für die Nacht, und du kannst dich nach Herzenslust ausruhen.«
    Sie erhoben sich, packten ihre Bündel zusammen und wanderten weiter. Die Oleanderbäume entlang der schmalen Wasserläufe trugen dicke Blütenbüschel, noch geschlossen, aber schon zum Aufspringen bereit. Löwenzahn blühte, wilder Mohn leuchtete rot. Der Himmel war von einem leichten Blau, durchzogen von Wolkenschleiern, die Luft lau, vom Duft der Mandelblüten getränkt.
    Fast unvermittelt stiegen die Berge vor ihnen auf, schiefergraue Gipfelketten im Vordergrund, hinter ihnen silbern und bläulich schimmernde Silhouetten. Ihre Unterhaltung verstummte nun vollends. Schweigend erklommen sie die ersten Anhöhen, passierten einen Weiler, ließen ein kleines Dorf mit ein paar niedrigen Häusern aus verwitterten Kalkblöcken hinter sich. Als der Junge fragend auf den Weg wies, der hinunterführte, schüttelte Merope den Kopf.
    »Nein, heute und die nächste Nacht verbringen wir nicht unter Dach. Wir wollen dem Mond ganz nah sein.«
    Langsam senkte sich der Abend nieder. Dunkles Gold vermischte sich mit dem silbrigen Grün der Olivenbäume, die hier oben schon spärlicher wuchsen. Kein menschlicher Laut war zu hören, nur vereinzelte Vogelrufe und das Geräusch ihrer Schritte auf dem schmalen, steinigen Pfad: die seinen ungestüm, eilig, immer wieder absetzend, ihre in bedächtiger Regelmäßigkeit. Dann ließen sie auch die Ölbäume hinter sich und erreichten dunkelgrünes Nadelgehölz.
    Merope hielt inne, ließ den Beutel sinken und blickte zum Gipfel empor, der immer noch fern und unnahbar schien. Zeit, sich ein Lager zu suchen, die letzte Mahlzeit zu bereiten und ein wenig zu ruhen, dachte sie. Er wird seine Kräfte noch brauchen. Und ich meine, um der Göttin heute nacht zu opfern.
    »Laß uns hier halt machen, Astro«, schlug sie deshalb vor und sah ein Stück entfernt den heiligen Hain im schwindenden Abendlicht liegen. »Geh Holz sammeln, damit wir uns noch ein Feuer machen können!«
    Er lief davon, und sie sah ihm gerührt nach. Du sentimentale Alte! schalt sie sich selbst. Gewöhne dich daran, daß er nun seinen eigenen Weg gehen wird! Du wirst ihn dabei nicht aufhalten. Du kannst Astro nur lehren, ihn mutig und wissend
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