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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine
Autoren: Brigitte Riebe
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viele Jahre in Sicherheit gelebt. Dort war der Junge unter ihrer Obhut herangewachsen. Dort hatte er an ihrer Seite die Eichenwälder erforscht, die von Heidekraut und Buschwerk bewachsenen Schluchten, die Höhlen, in denen seine Tiere Schutz vor Unwetter gesucht hatten. Ob er jemals wieder die blauen Dolden der Keuschbäume sehen und die duftenden Myrten vor ihrem Haus riechen würde?
    Sie seufzte und sah sich nach ihm um. Der Junge, der auf den Namen Astro hörte, stand ganz vorn am Bug des Schiffes und starrte ins Wasser.
    »Da schwimmt etwas«, rief er, und seine Augen leuchteten vor Erregung. »Schau nur, Mutter! Da treibt etwas neben dem Schiff! Ist es ein Tier? Aber es bewegt sich nicht.«
    Merope erhob sich langsam, überrascht von einem jäh aufsteigenden Unwohlsein, und trat dicht hinter ihn. Sie spürte die Hitze seines jungen Körpers. Dann erst sah sie den toten Delphin, der im Wasser trieb. In seinem silbernen Bauch klaffte eine tiefe Wunde.
    Rasch wandte sie sich ab, um ihr Erschrecken zu verbergen. Große Göttin, ein toter Delphin, so kurz vor dem Ziel! Ein unheilverkündendes Omen für ihre Reise, die der Königin ihren Delphinring zurückbringen sollte – und ihren totgeglaubten Sohn!
    Astros Rufe hatten auch einige der Männer aufmerksam gemacht, die sich jetzt ebenfalls über die Reling beugten. Merope hörte leise Flüche und ein paar gemurmelte Gebetsfetzen. Seeleute hielten es für ein glückbringendes Zeichen, wenn Delphine dem Schiff folgten. Und jetzt dieser aufgeschlitzte Kadaver! Mit aller Kraft zwang Merope ihr wild schlagendes Herz zur Ruhe. Nur jetzt keine Aufregung zeigen! Nichts durfte ihre Mission aufhalten.
    Der Kapitän versuchte sie barsch zur Rede zu stellen; auf seinem sonnenverbrannten Gesicht wechselten Mißtrauen und Unsicherheit mit echter Besorgnis. Merope verstand, daß er eine Erklärung von ihr erwartete. Was aber konnte sie ihm sagen, ohne zuviel preiszugeben?
    Als sie ihm bei ihrer ersten Begegnung im Hafen das goldene Doppelhorn mit der Sonnenscheibe gezeigt hatte, hatte er sich vor der Priesterin der Großen Mutter verneigt und um ihren Segen für Mannschaft und Schiff gebeten. Respektvoll hatte er angeboten, ihr und dem Jungen den Preis für die Überfahrt zu erlassen. Und er hatte nicht gefragt, warum die Frau und der junge Hirte ausgerechnet zur Zeit der Frühjahrsstürme nach Osten mitgenommen werden wollten. Um die Herrin der Tiefe für ihre Reise günstig zu stimmen, hatte Merope am Strand das Abfahrtsopfer dargebracht: Muscheln und einen Fang rötlich schimmernder Fische, zusammen mit einer Amphore Öl.
    »Ist dein Opfer nichts wert gewesen, Priesterin?« herrschte er sie an und rieb seine Stirnglatze. »Was bedeutet dieses böse Zeichen? Du weißt doch, wie abergläubisch Seeleute sind! Was glaubst du, wie sie auf dieses tote Tier reagieren?« Sein Mund verzog sich unwillig. »Vielleicht liegt ein Fluch auf dir oder dem Jungen, und ich hätte euch nicht mitnehmen …«
    »Hör sofort auf mit diesem Unsinn!« unterbrach sie ihn. »Du weißt genau, daß mein Strandopfer der Göttin wohlgefällig war! Oder hast du vielleicht jemals zuvor um diese Jahreszeit eine Reise ohne Sturm erlebt?«
    Mit hocherhobenem Haupt stand sie vor ihm, und ihm war, als ginge von der Frau im einfachen Wollumhang eine zwingende Kraft aus. Ihre Augen blitzten, und die silberhellen Haare, die der Wind aus dem Knoten gelöst hatte, gaben ihr ein beinahe jugendliches Aussehen.
    »Da magst du recht haben«, schnaubte er widerwillig. »Die Reise war friedlich – zumindest bislang. Aber was hat dieser tote Delphin zu bedeuten?«
    »Bist du ein Mann oder ein ängstliches Kind?« entgegnete Merope heftig und tastete nach den Spitzen des Doppelhorns in ihrer Gewandtasche. »Willst du das Tun der Meeresgöttin beurteilen wollen, die Leben schenkt und Leben nimmt?«
    Dieses Leben hat allerdings eine frevelnde menschliche Hand beendet, fügte sie für sich hinzu. Denn die tödliche Wunde stammte von einer gutgeschärften Harpune.
    »Kein Wort mehr!« fuhr sie fort und fixierte ihn streng. »Oder bist du auch nichts anderes als ein abergläubischer Matrose? Und was deine Mannschaft betrifft, so werde ich sie schnell wieder zur Vernunft bringen.«
    Entschlossen ging sie zum Achterdeck, wo sie ihr weniges Gepäck verstaut hatte. Sie öffnete einen ledernen Beutel, griff hinein und zog einen kleinen Gegenstand heraus. Die meisten der Männer waren ihr gefolgt und standen im Halbkreis um
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