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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine
Autoren: Brigitte Riebe
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sie.
    »Seht her!« Merope bemühte sich, ihrer Stimme die gewohnte Festigkeit zu geben. »Die Göttin hat uns ein warnendes Zeichen geschickt. Sie ermahnt uns, die Wesen des Meeres zu achten. Wir sollen nicht töten, um unsere Mordgelüste zu befriedigen. Jagen dürfen wir nur, um unseren Hunger zu stillen.«
    In ihrer Hand blitzte ein silberner Skarabäus, den sie seit den längst vergangenen Tagen ihres Hoflebens aufbewahrt hatte.
    »Große Mutter, nimm dieses Symbol des Todes und der Wiedergeburt gnädig an. Schenke uns eine friedliche Reise und eine gesegnete Heimkehr!« Damit warf sie den Anhänger mit weitem Schwung in die leichtgekräuselte See.
    Allmählich zerstreuten sich die Matrosen, und auch der Kapitän kehrte brummend auf seinen Posten zurück. Merope merkte, wie der Junge um sie herumstrich.
    »Dauert unsere Reise noch lang?« fragte er schließlich.
    »Nein, mein Sohn. Wir haben den Hafen bald erreicht.« Und dann beginnt der Weg in die Berge, zu der alten Höhle, dachte sie. Dein Weg in ein neues Leben.
    Sie bemerkte sein Zögern, spürte, wie er mit einer Frage kämpfte. »Nun sag schon, was du wissen willst«, half sie ihm liebevoll. In seinen grüngoldgesprenkelten Augen stand ängstliche Ungewißheit.
    »Alles ist auf einmal so seltsam, nicht nur der tote Delphin«, sprudelte er hervor. »Warum bist du die ganze Zeit so geheimnisvoll? Warum die weite Reise? Ich sollte in diesem Frühjahr doch zum erstenmal eine eigene Herde bekommen! Was soll nun aus den neugeborenen Zicklein werden?«
    Er brach ab und sah sie hilfesuchend an.
    »Astro, du weißt doch, daß alle Jungen einige Tage in einer heiligen Höhle verbringen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Wenn sie das Dunkel verlassen, sind sie zu Männern geworden.«
    Sein Gesicht verzog sich bei ihren Worten in kindlichem Trotz. »Natürlich weiß ich das!« begehrte er auf. »Männer können weder bluten noch gebären, deshalb nimmt sie der Schoß der Göttin auf und gebiert sie neu. Im letzten Jahr haben sie meinen Freund Tiyo in die Höhle gebracht. Aber warum müssen wir so weit segeln, wo doch unsere Berge auch voller Höhlen sind?«
    Weil du eben kein Bauer bist, sondern der Sohn der Königin, dachte Merope. Aber das wirst du bald selbst erfahren. »Ich habe dir schon mehrmals gesagt, mein Sohn«, erwiderte sie ihm stattdessen, »daß nicht alles für alle gut sein muß. Tiyo erlebte seine Einweihung in der für ihn bestimmten Höhle, und für dich hat die Große Mutter eine andere bestimmt. Sei nicht so ungeduldig«, wehrte sie lächelnd weitere Einwände ab. »Wir sind beinahe da. Wir legen bald an.«
    Ja, sie waren fast am Ziel. Mit Bedacht hatte Merope einen der kleineren Häfen an der Südküste ausgewählt, von dem aus sie ihren Weg in die Berge nehmen konnten. Vielleicht war sie übervorsichtig gewesen. Wer würde sich schon um eine alte Frau und einen Halbwüchsigen kümmern? Aber sie hielt es für besser, auf der Hut zu sein! Zwar hatte sie seit mehr als zwanzig Jahren die Nähe des Hofes gemieden, aber neugierige Augen und vorwitzige Münder, die Gerüchte verbreiteten, gab es überall. Denn der Sohn der Königin kehrte heim.
     
    Inzwischen hatte das Schiff seinen Kurs geändert und steuerte direkt auf das Ufer zu. Langsam konnte man Häuser erkennen, halbmondförmig in die Bucht geschmiegt. Ein breiter Sandstrand war auf beiden Seiten von Felsen geschützt. Das Segel war schon eingeholt, der Anker, eine Pyramide aus rotem Porphyr, wurde gesetzt. Die Sonne war höher gestiegen und schien nun fast mit sommerlicher Kraft.
    Wir müssen sehen, daß wir an Land kommen, dachte Merope. Wir haben noch ein ordentliches Stück Weg vor uns. Übermorgen ist die Nacht der Frühlingswende. Dann muß er an seinem Ziel sein.
    Geschäftiges Treiben herrschte nun auf dem Schiff, dem sich langsam vom Ufer her ein kleines Ruderboot näherte.
    »Kommen sie, uns zu holen, Mutter?«
    Merope nickte.
    »Und dann gehen wir in die Berge?«
    Und wieder nickte sie. Ja, zu der großen Höhle, mein Sohn, die schon seit Anbeginn aller Zeiten auf dich wartet. Dort wirst du der Göttin begegnen.
    »Laß uns dem Kapitän Lebewohl sagen«, forderte sie ihn auf, »und ihm für seine Freundlichkeit danken.«
    Astro lief ihr voraus, und sie beobachtete, wie der Junge lebhaft auf den stämmigen Mann einredete, der ihn freundlich, fast väterlich betrachtete.
    Wie sehr er männliche Gesellschaft zu genießen scheint, dachte sie mit leiser Wehmut. Vielleicht hat er den Vater
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