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P., Thomas

P., Thomas

Titel: P., Thomas
Autoren: Der Rache Engel
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auch die Zähne geputzt
hatte. Ob die Hausaufgaben gemacht waren oder ich meinen Schulranzen ordentlich
gepackt hatte. Wenn ich meine kleinen Dienste und Pflichten zu verrichten
hatte, war meine Mutter bei der »Arbeit«. Es war niemand da, der mich betreuen
konnte oder einfach mit mir zum Kinderarzt gegangen wäre, wenn mir mal etwas
wehtat. Nichts. Es gab nur einen Menschen, auf den ich mich verlassen konnte
und vor allem verlassen musste, und das war ich selbst. Mit einer
erstaunlichen Disziplin und einem naturgemäßen Gefühl für mein eigenes Ich
sowie einem inneren Drang zu Ordnung und Struktur brachte ich mich irgendwie
über die Jahre. So gut es ging.
    Natürlich saß ich auch mal bis um zehn vor der Glotze. Es
wäre ja auch seltsam gewesen, wenn ein Kind diese Freiheiten nicht genutzt
hätte. Aber sobald ich müde war, habe ich mich selbstständig ins Bett
verkrochen und mir den Wecker für den kommenden Morgen gestellt. Das musste ich
auch, denn meine Mutter hätte mich nie rechtzeitig aus dem Bett holen können.
Ich zog mich an - alleine —, wusch mich und machte mir anschließend mein Frühstück.
Auch alleine. Danach ging ich meist kurz zu meiner Mutter, die regungslos in
ihrem Schlafzimmer lag, um sie zu fragen, ob sie nicht auch was frühstücken
oder wenigstens einen Kaffee wollte. Und dann frühstückte ich - alleine.
    Manchmal indes stürzte sie nachts stockbesoffen in mein
Zimmer und plärrte: »Mein Tommy, du bist doch das liebste Kind.« Sie fragte
mich dann meistens lallend, ob ich etwas essen wolle. Nachts um halb zwei oder
noch später. Dieser seltsame Anfall von Mutterliebe endete dann stets damit,
dass ich sie ausziehen und irgendwie ins Bett verfrachten musste, weil sie
selbst dazu ja nicht mehr in der Lage war.
    Es war klar, dass in meiner Familie etwas nicht stimmte.
Aber wer realisierte das überhaupt? Ich hatte bemerkt, dass andere Kinder
besser aufwuchsen und mehr Fürsorge erhielten. Aber ich selbst wusste es nicht
besser, weil ich es nicht anders kannte. Und — die ganze Sache hatte
schließlich auch Vorteile. So konnte ich meiner Mutter regelmäßig Geld aus dem
Portemonnaie ziehen, ohne dass sie etwas davon bemerkt hätte. Wenn ich
irgendetwas brauchte, nahm ich mir das Geld und holte es mir. Auch konnte ich
den ganzen Tag fernsehen, was ja für ein Kind selbst keine Belastung, sondern
ein Zeichen enormer Freiheit war. Und wir waren vergleichsweise wohlhabend, was
sich darin zeigte, dass wir frühzeitig große Fernseher, Computerspiele oder
moderne Videorecorder zu Hause herumstehen hatten. Die passenden Filme lieh ich
mir auch selbst aus. Ohne Altersbeschränkung, versteht sich - dafür hatte meine
Mutter gesorgt, die dem Chef der Videothek versichert hatte, dass das Kind sich
jeden, wirklich jeden Film ausleihen dürfe. Und so habe ich »Freitag, der 13.«
im Alter von zehn Jahren gesehen. Der Hurensohn hatte seinen Klassenkameraden
etwas voraus...
    Auch Weihnachten war wie im Bilderbuch. Die ersten Stunden
zumindest. Das Glöckchen bimmelte, der Christbaum strahlte funkelnd im Wohnzimmer,
und an Geschenken war alles da, was ich mir gewünscht hatte. Als jedoch alles
ausgepackt war und ich glückselig auf Bergen von Kartons und Papier kauerte,
war das Fest auch schon beendet. Dann sind meine Mutter und auch mein Vater —
wenn er denn da war — einfach abgehauen, um sich gepflegt christlich volllaufen
zu lassen. Ich saß dann als kleiner Junge alleine da in meinem teuren
Adidas-Trainingsanzug und ließ mein ferngesteuertes Auto durch die verlassene
Wohnung rasen. Totenstille Nacht.
    Die wenigen und kurzen Glücksmomente wurden jedes Mal mit
einer erbarmungslosen Zuverlässigkeit hemmungslos wieder zerschossen. Das vorherrschende
Gefühl meiner Kindheit blieb letztlich die Traurigkeit — und die vollkommene
Einsamkeit. Oft ging ich von der Schule direkt in eine der Kneipen, wo meine
Mutter schon seit dem Frühschoppen herumgammelte. Ich war für die Säufer dort
das Maskottchen, der Pausenclown und Tanzbär — brachte den Schnaps oder drückte
die Knöpfe an der Musicbox und bekam dafür immer mal wieder eine Mark für den
Flipper, den »Pac Man«- oder den »Donkey Kong«-Videospiel-Automaten. Zu jener
Zeit konnte ich das richtig gut, genauso wie ich die Telefonnummern der Kneipen
auswendig kannte. Die vom »Störtebeker« hab ich nach dreißig Jahren immer noch
im Kopf: 04941-3428. Die Telefonnummer meiner Kindheit, tief eingebrannt und
durch nichts mehr zu löschen.
    So
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