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P., Thomas

P., Thomas

Titel: P., Thomas
Autoren: Der Rache Engel
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war ich stets ein mittelmäßiger Schüler, mit dem die
Lehrer nicht immer zufrieden sein konnten. Aber auch einer, der nicht
besonders auffiel. Zumindest nicht als ein Kind, das seine Matheaufgaben in
verrauchten Spelunken ausknobeln musste. Ich hatte immer alles erledigt.
Irgendwie. Das zumindest war zu jener Zeit mein Ehrgeiz.
     
    3.
     
    Ende September 1985 wurde mein Vater mit einem
Notarztwagen ins Krankenhaus in Aurich eingeliefert. Er litt unter schwerer
Gelbsucht, weil er jahrelang gesoffen hatte und seine Leber dementsprechend
ruiniert war. Er wollte erst gar nicht in die Klinik und hatte sich wochenlang
dagegen gesträubt. Als er schließlich schon gelbe Augäpfel hatte, gab es keine
andere Lösung mehr. Er wurde eingeliefert. In den folgenden drei Wochen bin ich
dann jeden Tag direkt nach der Schule ins Spital gefahren, um ihn zu besuchen.
Und da war etwas, was ich bis dahin eigentlich gar nicht kannte: Mein Vater hat
sich jedes Mal riesig gefreut, wenn er mich neben seinem Bett stehen sah. Es
gab also doch jemanden, dem ich wichtig war.
    Eines Morgens dann, es war der 15. Oktober 1985, kam ich
um halb sieben zum Frühstück in die Küche, und mir bot sich ein ungewöhnliches
Bild. Meine Mutter war schon auf und lehnte müde am Küchenschrank.
    »Du brauchst heute nicht nach der Schule ins Krankenhaus,
das kannst du dir sparen«, raunzte sie.
    »Warum denn?«, fragte ich.
    »Die haben heute Nacht angerufen. Dein Vater ist
gestorben. So, und jetzt ab in die Schule.«
    Sie schob sich von dem Schrank weg, schlappte nach nebenan
in ihr Zimmer, legte sich ins Bett und schlief wieder ein. Für mich aber war
mit diesem Satz die einzige Struktur, das einzige bisschen familiäre Ordnung,
Wärme und Liebe zerstört. Mein Vater, der zwar auch ein Säufer war,
gleichzeitig aber auch der einzige Mensch, dem ich etwas zu bedeuten schien,
war nun einfach weg. Und würde nie wieder zurückkommen. In mir schien auf einen
Schlag alles zusammenzubrechen...
    An diesem Morgen fühlte ich nur einen seltsamen dumpfen
Nebel um mich herum. Ich stand allein in der Küche, und es gab niemanden, der
mir etwas erklären oder mich einfach nur in die Arme hätte nehmen können. In
meiner Verzweiflung ging ich tatsächlich in die Schule — so, wie es mir meine
Mutter befohlen hatte. Ich saß wohl schweigend auf meinem Stuhl und starrte
abwesend zur Tafel. Oder zur Seite, aus dem Fenster. Jedenfalls nahm ich nichts
wahr. Ich hatte auch keinen Gedanken, dem ich nachhing. Da war einfach ein
Nichts um mich herum. Plötzlich, es war ganz komisch, fragte mich die Lehrerin
irgendwas — ich weiß nicht mehr, um was es ging —, aber die Erwähnung meines
Namens, die Frage in meine Richtung weckte mich offenbar aus meiner Trance.
    »Mein Vater ist gestorben«, war meine einzige Antwort. Und
dann wurde es ganz ruhig in dem Klassenraum.
    »Mit so etwas macht man keine Scherze«, antwortete die
Frau streng. Ich hab sie dann wohl aschfahl angesehen, und sie schien irgendwie
begriffen zu haben, dass ich es ernst meinte.
    »Es ist wirklich wahr - mein Vater ist vergangene Nacht
gestorben.«
    Die fassungslose Lehrerin stürmte mit mir an der Hand aus
dem Klassenzimmer, hinauf ins Schulsekretariat und rief von dort aus meine
Mutter an. Die bestätigte ihr wohl trocken und ohne Umschweife, dass ich die
Wahrheit gesagt hatte. Und zum ersten Mal an diesem Morgen erfuhr ich ein
kleines bisschen Wärme. Von meiner Lehrerin, die mich in ihre Arme schloss,
mich tröstete und mich dann nach Hause schickte. Was die fürsorgliche Pädagogin
nicht ahnen konnte: Zu Hause bei meiner Mutter und meinen Halbgeschwistern war
ich ganz und gar nicht gut aufgehoben. Mehr weiß ich heute nicht mehr von
diesem Tag. Nur, dass ich überhaupt nicht geweint habe. Keine einzige Träne.
    Immerhin hatte ich in jener Zeit eine gute Freundin. Sie
hieß Diana, ihren Eltern gehörte ein Reformhaus in der Auricher Fußgängerzone,
und sie hatten reichlich Kohle. Um mit ihr zusammenzubleiben, wechselte ich
auch auf die integrierte Gesamtschule, denn wichtiger als alles andere war für
mich, jemanden an der neuen Schule zu haben, der mich kannte und auch
verstand. Tim, der Junge aus dem Reisebüro - mein anderer guter Freund —, ging
leider aufs Gymnasium. Von ihm musste ich mich Schritt für Schritt trennen,
auch wenn wir in einer Übergangsphase noch regelmäßig Kontakt hielten.
     
    4.
     
    Als ich 13 Jahre alt war, entschloss sich meine Mutter,
das Haus auf meinen Bruder und
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