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P., Thomas

P., Thomas

Titel: P., Thomas
Autoren: Der Rache Engel
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der eingestaubten 40-Watt-Birne und soff sich mit irgendwelchen
Kumpanen den Verstand und die Verantwortung weg. Trank, bis sie ihr Elend nur
noch wattiert wahrnehmen musste. Das Elend einer gealterten Hure, die im zunehmenden
Maße nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Familie zugrunde richtete.
    Dieser nächtliche Ausflug und das damit verbundene Gefühl
der totalen Einsamkeit sind mir bis heute im Gedächtnis geblieben.
    Von Zeit zu Zeit durfte ich auch mal meinen Vater
besuchen. Aber nur, wenn er das Taxi bezahlte, denn er wohnte etwa zehn
Kilometer außerhalb von Aurich, in Riepe bei meinen Großeltern. Dort hat er mir
dann das Fahrradfahren beigebracht. Und das Schießen mit dem Luftgewehr,
hinten im Garten, mit alten Tabakdosen als Ziel. Die schepperten immer
wunderbar, wenn man sie traf. Eine coole Sache für einen kleinen Jungen wie
mich, aber tatsächlich die richtige Beschäftigung für einen Fünf- oder
Sechsjährigen?
    Mit Sicherheit aber besser, als meine Mutter zur Arbeit in
die »Kupferkanne« zu begleiten. Dort saß ich dann auf schmuddeligen Eckbänken
im Schummerlicht und durfte zusehen, wie meine Mutter in einem schwarzen
Korsett herumlief, sich an fremde Männer mit Mundgeruch und fettigen Haaren
hängte, um dann für eine halbe Stunde mit ihnen auf einem Zimmer zu verschwinden.
Manchmal immerhin waren diese fremden Männer auch nett zu mir. Einer schenkte
mir mal eine Tafel Schokolade, andere drückten mir 50 Pfennig in die Hand —
»kauf dir was Schönes, Kleiner«. Das Lachen dieser Männer mündete dann häufig
in ein asthmatisches Röcheln und Gurgeln, was ich in dem Alter damals
natürlich nicht einordnen konnte.
    Jahre später, in der Grundschule, nannten sie mich dann
»Hurensohn«. Hurensohn. Was sollte das nur sein, ein Hurensohn? Was wollten die
Kinder mir damit sagen? Ich wusste beim besten Willen nicht, was das Wort bedeutete,
und habe in der Folge Attacken wie diese immer mit einem entschlossenen
»Arschloch« pariert und mir dabei auch noch gedacht, ich hätte gut gekontert.
Richtig begriffen hatte ich das Getuschel und Gekichere hinter meinem Rücken
erst, als ich zehn oder zwölf Jahre alt war. Und da dämmerte mir dann auch
langsam, warum eigentlich kaum einer mit mir spielen durfte. Manche hatten es
ja schon immer in ihrer kindlichen Ehrlichkeit gesagt: »Ich darf nicht mit dir
spielen, das hat meine Mama verboten. Du bist nämlich ein Hurensohn!«
Irgendwann wusste ich dann also, was das zu bedeuten hatte.
    Nach meinem nächtlichen Stadtspaziergang wurde ich
abgeholt. Wie das kam, weiß ich nicht, aber die Eltern von Tim hatten wohl das
Jugendamt informiert. Ich habe geheult und gestrampelt und wollte partout
nicht weg. Ich hatte zwar das erbärmlichste Zuhause, das man sich vorstellen
kann, aber es war immerhin mein Zuhause. Nun wurde ich plötzlich zu
Pflegeeltern gebracht - Verwandten meiner Mutter. Die hatten auch zwei eigene
Kinder, aber dort wurde es dann so richtig beschissen. Es ging mir noch
schlechter als daheim, was man nicht hätte glauben wollen. Zwar war ich nicht
mehr ständig allein, dafür wurde ich aber auch auf dem Dachboden eingesperrt.
Und zu essen bekam ich demonstrativ immer etwas Schlechteres als der leibliche
Nachwuchs. Dort Fleisch mit Kartoffeln, hier eine dünne Wasserbrühe. Man konnte
meiner Mutter vieles nachsagen, aber ich bekam immer etwas Feines zu essen. Entweder
hatte sie gekocht oder mir Geld für einen Imbiss gegeben. Meistens war es
allerdings das Geld...
    Ich musste eine Woche bei dieser Familie bleiben, dann
fuhr ich mit meiner Mutter auf eine Kur in den Schwarzwald. Und danach durfte
ich wieder nach Hause. Irgendwie.
     
    2.
     
    Nur wenige Wochen später kam ich dann in die Schule. Mit
einer bis oben hin gefüllten Schultüte. Ein glückliches Kind, an der Hand einer
glücklichen, treusorgenden Mutter — auch hier stimmte die Fassade mal wieder
bis ins letzte Detail. Dass sie sich vor der Einschulung - wie jeden Morgen -
zum Frühstück einen billigen Weinbrand eingegossen hatte, konnte man dieser
kleinen Familienidylle nicht ablesen. Und dass für mich mit dem Eintritt in die
Schule meine Probleme erst richtig beginnen würden, auch nicht. Ich war ein
sechsjähriger Schuljunge, der sich mehr oder weniger selbst versorgen und auch
selbst erziehen musste. Und ich war der Hurensohn. Der Sohn einer armseligen alten
Nutte.
    In meinem Zuhause gab es niemanden, der mich ins Bett
geschickt hätte. Keiner, der darauf achtete, ob ich mir
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