Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
wieder im Finstern saß, glitt dann weiter übers Gesicht und fiel ihm in den Schoß. Er starrte den Helm an. Der obere Teil war weitgehend weggesprengt; das zerrissene und verbogene Metall des Randes ähnelte nichts so sehr wie einer Dornenkrone.
    Horrorgeschichten von bombardierten Soldaten fielen ihm ein, die ohne Kopf oder mit den eigenen Innereien in den Händen noch zwei Dutzend Meter gelaufen waren, ohne ihren Zustand zu begreifen, und ein heftiges Zittern ergriff Paul. Langsam, wie in einem grausigen Spiel mit sich selbst, befühlte er mit den Fingern das Gesicht, fuhr sich damit über Wangen und Schläfen, tastete nach der Schädeldecke in der Erwartung, nur noch Brei vorzufinden. Er fühlte Haare, Haut und Knochen … aber alles an seinem richtigen Platz. Keine Wunde. Als er sich die Hände vors Gesicht hielt, waren sie ebenso mit Blut beschmiert wie mit Schlamm, aber das Rot war schon trocken, alte Farbe, Pulver. Er ließ die lange angehaltene Luft hinaus.
    Er war tot, aber sein Kopf tat weh. Er war am Leben, aber ein rotglühender Granatsplitter hatte seinen Helm durchschlitzt wie ein Messer eine Tortenglasur.
    Paul blickte auf und sah den Baum, das kleine, skelettartige Ding, das ihn ins Niemandsland hinausgelockt hatte. Den Baum, in dem der sterbende Mann gehangen hatte.
    Jetzt ragte er durch die Wolken.
     
    Paul Jonas seufzte. Er war fünfmal um den Baum herumgegangen, und das Ding machte keinerlei Anstalten, weniger unmöglich zu werden.
    Das zierliche, blattlose Bäumchen war so hoch gewachsen, daß seine Krone hinter den Wolken verborgen war, die bewegungslos am grauen Himmel hingen. Sein Stamm war so breit wie ein Burgturm aus dem Märchen, ein gewaltiger Zylinder aus rauher Rinde, der sich genauso weit nach unten wie nach oben zu erstrecken schien, denn er stieß ganz gerade in den Bombenkrater hinab und verschwand auf dem Grund in der Erde, ohne Wurzeln erkennen zu lassen.
    Er war um den Baum herumgegangen und konnte sich keinen Reim darauf machen. Er war vom Baum weggegangen in der Hoffnung, einen Blickwinkel zu finden, aus dem er seine Höhe abschätzen konnte, aber das hatte seinem Verständnis auch nicht aufgeholfen. Ganz gleich, wie weit zurück er über die kahle Ebene stolperte, der Baum ragte weiterhin durch die Wolkendecke. Und ob er wollte oder nicht, er mußte stets zu dem Baum zurückkehren. Nicht nur, daß sich nirgends ein anderes Ziel bot, nein, die Welt selbst wirkte irgendwie gekrümmt, so daß er sich am Schluß immer wieder auf den monumentalen Stamm zubewegte, ob er nun diese oder jene Richtung einschlug.
    Er setzte sich eine Zeitlang mit dem Rücken dagegen und versuchte zu schlafen. Der Schlaf wollte nicht kommen, aber er hielt seine Augen trotzdem hartnäckig geschlossen. Die Rätsel, die sich ihm stellten, paßten ihm nicht. Er war von einer explodierenden Granate getroffen worden. Der Krieg und alle daran Beteiligten schienen wie vom Erdboden verschluckt, dabei konnte man einen bewaffneten Konflikt von solchen Ausmaßen eigentlich nur schwer einfach so verschwinden lassen. Das Licht hatte sich nicht verändert, seit er hierhergekommen war, obwohl die Explosion nun schon Stunden her sein mußte. Und das einzige andere Ding auf der Welt war ein immenses, unmögliches Gewächs.
    Er betete darum, wenn er die Augen wieder öffnete, möge er sich entweder in einem respektablen Jenseits befinden oder zurückversetzt sein in den gewohnten Jammer der Schützengräben mit Mullett und Finch und dem Rest der Einheit. Als er fertig gebetet hatte, wagte er noch nicht zu schauen, weil er Gott – oder Irgend Jemand – genug Zeit geben wollte, alles wieder in Ordnung zu bringen. Er saß da, bemühte sich, den Schmerz quer über seinen Hinterkopf zu ignorieren, und ließ die Stille in sich einsinken, während er darauf wartete, daß wieder normale Verhältnisse einkehrten. Schließlich öffnete er die Augen.
    Dunst, Schlamm und der immense, verfluchte Baum. Nichts hatte sich verändert.
    Paul seufzte tief und stand auf. Er hatte nicht viele Erinnerungen an sein Leben vor dem Krieg, und im Augenblick war selbst die unmittelbare Vergangenheit verdüstert, aber an eines erinnerte er sich jetzt, nämlich daß es eine Geschichte gegeben hatte, in der etwas Unmögliches geschah, und sobald klar war, daß das Unmögliche nicht daran dachte, sich als ungeschehen herauszustellen, blieb nur eines übrig: Das Unmögliche mußte als möglich behandelt werden.
    Was macht man mit einem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher