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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Autoren: Tad Williams
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mit der Zigarette schien das bestätigt zu haben, aber der Beschuß war so stetig gewesen, daß Paul nicht den Wunsch verspürt hatte, sich vom Fleck zu bewegen. Jetzt, wo seit einer Weile Ruhe herrschte, fragte er sich, wie es um den Rest der Einheit stand. Hatten sich Finch und die übrigen alle noch weiter zurückgezogen, in irgendwelche früher gebuddelten Löcher? Oder lagen sie bloß ein paar Meter weiter platt am Boden und waren von keinen zehn Pferden aufs offene Schlachtfeld zu bringen, auch nicht für einen Hilfseinsatz?
    Er ließ sich auf die Knie fallen, schob den Helm nach hinten, damit er ihm nicht über die Augen rutschte, und kroch in westlicher Richtung los. Obwohl er sich weit unterhalb des Grabenrands hielt, empfand er seine Bewegung als provokativen Akt. In Erwartung eines furchtbaren Schlages von oben zog er die Schultern hoch, aber außer dem unablässigen Jammern des sterbenden Mannes kam nichts.
    Zwanzig Meter und zwei Biegungen weiter stieß er auf eine Wand aus Schlamm.
     
    Paul versuchte sich die Tränen wegzuwischen, aber rieb sich dabei nur Schmutz in die Augen. Eine letzte Explosion ertönte droben, und die Erde bebte im Einklang. Ein Klumpen Schlamm an einer der in den Graben ragenden Wurzeln erzitterte, fiel ab und wurde ein nicht zu unterscheidender Teil der allgemeinen Schlammigkeit des Bodens.
    Er saß in der Falle. Das war die schlichte, schreckliche Wahrheit. Sofern er sich nicht oben aufs ungeschützte Gelände wagte, konnte er sich nur in seinem abgeschnittenen Stück Schützengraben zusammenkauern, bis ihn eine Granate traf. Er machte sich keine Illusionen, daß er lange genug durchhalten würde, um mit Verhungern rechnen zu müssen. Er machte sich überhaupt keine Illusionen. Er war so gut wie tot. Nie wieder würde er Mullett über die Rationen klagen hören oder den guten alten Finch dabei beobachten, wie er sich den Schnurrbart mit dem Taschenmesser stutzte. Solche Kleinigkeiten, so nichtig, und doch vermißte er sie schon so sehr, daß es weh tat.
    Der Sterbende war immer noch dort draußen und heulte.
    Dies ist die Hölle, drin bin ich, nicht draußen …
    Wo war das her? Aus einem Gedicht? Der Bibel?
    Er knipste sein Halfter auf und zog seine Webley, führte sie vor sein Auge. In dem schwindenden Licht wirkte das Loch im Lauf brunnentief, eine Leere, in die er hineinfallen konnte, um nie wieder herauszukommen, eine stille, dunkle, Ruhe spendende Leere …
    Paul verzog den Mund zu einem trostlosen kleinen Lächeln, dann legte er vorsichtig den Revolver in seinen Schoß. Es wäre unpatriotisch, zweifellos. Lieber die Deutschen zwingen, ihre teuren Granaten an ihn zu verschwenden. Noch ein paar Arbeitsstunden mehr aus einem Fräulein mit frostblauen Armen an einem Fließband an der Ruhr herausschinden. Und überhaupt, Hoffnung gab es immer, oder?
    Er fing abermals an zu weinen.
    Oben unterbrach der Verwundete einen Augenblick sein Kreischen, um zu husten. Er hörte sich an wie ein Hund, der Prügel kriegte. Paul legte den Kopf nach hinten in den Schlamm und brüllte: »Halt’s Maul! Halt um Himmels willen das Maul!« Er holte tief Luft. »Halt endlich dein Maul und verreck, verdammt nochmal!«
    Von der Tatsache, daß er Gesellschaft hatte, offenbar ermuntert, fing der Mann wieder zu schreien an.
     
    Die Nacht schien ein Jahr oder noch länger zu dauern, Monate der Finsternis, große Blöcke aus unbeweglichem Schwarz. Die Geschütze knatterten und brüllten. Der sterbende Mann heulte. Paul zählte jeden einzelnen Gegenstand, an den er sich aus seinem Leben vor den Schützengräben erinnern konnte, dann fing er wieder von vorne an und zählte abermals. Bei einigen wußte er nur noch die Namen, aber nicht mehr, was die Namen eigentlich hießen. Manche Worte wirkten unglaublich fremd – »Liegestuhl« war eines, »Badewanne« ein anderes. »Garten« kam in mehreren Liedern im Gesangbuch des Kompaniepfarrers vor, aber Paul war sich ziemlich sicher, daß das auch etwas Wirkliches war, und so zählte er es mit.
     
    »Überleg dir mal, wie du rauskommst«, hatte der gelbäugige Mann gesagt. »Wie du wirklich raus kommst.«
    Die Geschütze schwiegen. Der Himmel war eine Idee fahler geworden, als ob jemand mit einem schmutzigen Lumpen drübergewischt hätte. Es war gerade so hell, daß Paul den Rand des Schützengrabens sehen konnte. Er kletterte hoch und rutschte so prompt ab, daß er über das Auf und Nieder lachen mußte. Wie du rauskommst. Er fand mit seinem Fuß eine dicke
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