Ostseefluch
nicht hergekommen wäre, würde sie noch leben.«
»Was hat ihr Tod denn mit dem Haus zu tun?« Irma kniff die Augen zusammen. »Du glaubst doch nicht etwa den Quatsch, den die Leute erzählen?«
»Was? Ach, das! Natürlich nicht.«
»Und was wolltest du mir dann sagen?«
»Nichts.« Herrgott, konnte sie ihn nicht in Ruhe lassen? Wie hatte er anfangs nur das Leben und die Leute hier, allen voran Irma, entspannt finden können? Weil sie auf Förmlichkeiten verzichteten und die Dinge beim Namen nannten? Inzwischen hasste er ihren Hang, alles auszudiskutieren. Worte, leere Worte, die zu nichts führten! Und wenn sie sich ihre Gefühle auch noch mit der Gitarre in der Hand singend anvertrauten, dann war für Patrick alles zu spät. Bedauerlicherweise wusste er nicht, wo er sonst hingehen sollte. So billig würde er sonst nirgends wohnen können. Und allein der Aufwand, der nötig war, sich eine neue Bleibe zu suchen ...
In seinem Zimmer unter dem Dach lagen noch Milenas Klamotten verteilt. Und ihr Geruch hing in seinem Bettzeug. Die Polizei war oben gewesen und hatte Gott weiß was angestellt. Wie sollte er heute Nacht da schlafen? Doch ohne Kohle blieb ihm nichts weiter übrig, als hierzubleiben, in der Küche zu hocken und zu warten. Irgendwann würde wenigstens Arne nach Hause kommen.
»Ich habe eigentlich gehofft, dass du dich uns mit der Zeit ein wenig öffnen würdest, Patrick.« Irma trat seitlich ans Fenster und schob das eingefärbte Betttuch, das abends als Vorhang diente, ein Stück zur Seite. Wozu war das Ding gut? Wer sollte hier hereinschauen? Und um was zu sehen? Aber in der Beziehung – und nicht nur in der – war Irma eigen. Sie zog jeden Abend alles zu, als lauerte draußen der Feind in den Büschen. Patrick hatte sie deswegen mal spießig genannt und dann eineinhalb Stunden darüber diskutieren müssen, bis Arne dem fruchtlosen Gerede ein Ende bereitet hatte.
Wo blieb er nur? Hatte er es noch nicht gehört?
Arne Klaasen gehörte zu der seltener werdenden Spezies der Handy-Verweigerer, genau wie Irma. Er hatte zwar ein Telefon dabei, aber er schaltete es nur an, wenn er selbst telefonieren wollte. Angeblich wegen der schädlichen Strahlung, die von seiner Hosentasche aus auf seine edelsten Körperteile einwirkte, wahrscheinlich aber eher aus purer Opposition. Im Haus gab es nur ein einziges altmodisches Telefon, an dem – oh, Wunder der Technik – ein Anrufbeantworter hing.
Patrick stand auf und sah ebenfalls aus dem Fenster. Es dämmerte schon. Am Horizont färbte sich der Himmel dunstig grau bis lila. Der Wind hatte aufgefrischt. Er zerrte an den Zweigen der Birken. Das rot-weiße Absperrband, das mit Metallspießen rund um den Gemüsegarten gespannt worden war, flatterte. Der LT der Spurensicherung stand immer noch auf dem Feldweg, doch in der Umgebung des weißen Zeltes waren keine Männer in Overalls mehr zu sehen.
»Wann die wohl endlich fertig sind?«, fragte Patrick.
»Wenn sie den Mörder haben«, meinte Irma und trat ein Stück zurück.
Die Tür zum Flur schwang auf. Patrick fuhr herum. Erst sah es so aus, als wäre es nur ein Luftzug gewesen. Dann erkannte er Zoes kleine Gestalt. Sie tapste barfuß in die Küche, den Kopf mit dem glatten roten Haar über die Stoffpuppe gebeugt, die sie an die Brust gepresst trug. Die mit dem filzigen schwarzen Schopf und dem gestreiften Oberteil, die sie ständig mit sich herumschleppte.
»Zoe, warum schläfst du nicht?«, fragte Irma sofort.
Das Kind blinzelte. »Ernie hat Angst.«
»Zoe, eine Puppe kann keine Angst haben«, sagte ihre Mutter mit mühsam verhohlener Ungeduld. Von morgens bis abends um Punkt sieben war Irma, was ihre Tochter anging, die Geduld in Person. Manchmal klang es ein wenig aufgesetzt, aber sie hatte sich im Griff. Doch zu der von ihr für Zoe festgesetzten Schlafenszeit schien ihre Beherrschung dann restlos erschöpft zu sein. Wenn die Kleine nicht schlafen wollte, gab es entweder Zoff, oder aber Arne erbarmte sich und las Zoe vor, bis sie eingeschlafen war. Wenn er dann wieder runterkam, saß Irma, vor Wut schnaubend, im Wohnzimmer und beklagte sich, dass er ihre Erziehung unterwandere. Manchmal blieb er da lieber gleich oben.
»Komm, ich bring dich und Ernie jetzt wieder ins Bett«, sagte Irma mit gepresster Stimme. Patrick sah zu, wie sie ihre Tochter hochhob und zur Treppe trug. »Es gibt überhaupt keinen Grund, Angst zu haben«, hörte er sie beteuern. Sie hätte auch in der Dunkelheit pfeifen können. Die
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