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Oscar

Oscar

Titel: Oscar
Autoren: David Dosa
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Mary und erhob sich. »Es ist zehn Uhr. Zeit, die Medizin zu verteilen!«
    Oscar blinzelte, ohne seine Tätigkeit einzustellen. Ob er wohl überlegte, was sie von ihm wollte? Schließlich war er ein Kater, weshalb es ganz gut zu ihm passte, sich unnahbar zu geben. Nach einem Augenblick hatte er offenbar doch begriffen, denn er sprang auf das Wägelchen mit den Medikamenten und sah Mary an, als wollte er sagen: »Wor-auf wartest du?«
    »Gut, Oscar, dann fangen wir auf der Westseite an.«
    Das Quietschen eines Hinterrads störte die Stille, doch niemand war wach, um sich davon gestört zu fühlen. Oscar spähte vom Wagen herab wie ein Kapitän vom Bug seines Schiffs.
    Die Tür zu Zimmer 316 stand offen, so dass Mary den Wagen direkt hineinschieben konnte. Im Bett lag friedlich schnarchend Louise Chambers. Oscar zeigte kein Interesse an ihr. Mary warf einen Blick auf die Medikationsliste und zog eine Schublade auf. Sie holte eine Tablette gegen Krampfanfälle heraus, drückte sie aus ihrer Hülle und füllte einen Becher mit Wasser. Dann beugte sie sich übers Bett und streichelte sanft die Hand der Patientin, um sie aufzuwecken. Als Louise aufschreckte, wartete Mary einige Augenblicke, bis sie sich zurechtgefunden hatte, um sie dann in eine sitzende Position zu bringen. Louise schluckte die Pille ohne Probleme und sank gleich wieder in Schlaf.
    Mary blieb einen Moment stehen und nahm den silbernen Bilderrahmen auf dem Nachttisch in die Hand. Das Foto stammte aus dem Zweiten Weltkrieg und zeigte einen Soldaten, der neben einem Kampfflugzeug stand. Den Helm locker in der Hand, lächelte er stolz in die Kamera. Als Mary das Bild, das sie schon oft gesehen hatte, genauer betrachtete, kam ihr der groß gewachsene Mann mit dem gewellten dunklen Haar, den vorstehenden Augen und dem ovalen Gesicht plötzlich irgendwie vertraut vor.
    Glucksend stellte sie das Bild auf den Nachttisch zurück. »Jetzt weiß ich endlich, warum Dr.Dosa so eine Wirkung auf Louise hat«, murmelte sie vor sich hin.
    Ohne sich anderswo länger aufzuhalten, ging Mary von Zimmer zu Zimmer, um einen Blick auf die Patienten zu werfen und ihnen, falls nötig, die verschriebenen Medikamente zu verabreichen. Die ganze Zeit über blieb Oscar auf dem Wägelchen hocken, ohne sich weiter um seine Umgebung zu kümmern. Erst im Zimmer von Ruth Rubenstein, die fest zu schlafen schien, setzte er sich plötzlich auf. Er blickte sich um und sog schnuppernd die Luft ein.
    In Zimmer 315 war offenbar etwas im Gange.
    Mit einem eleganten Satz sprang Oscar vom Wagen auf den Boden und dann aufs Bett, ohne Ruth zu berühren. Prüfend betrachtete er sie. Dann drehte er sich zweimal im Kreis, um sich sorgfältig eine Kuhle zu schaffen, in die er sich legen konnte. Sobald er sich darin niedergelassen hatte, blickte er Mary an, als wollte er sie wegschicken.
    »Willst du etwa hierbleiben?«, fragte sie erstaunt.
    Oscar legte den Kopf auf die Vorderpfoten und schmiegte sich sanft an den Arm von Ruth Rubenstein.
    Mary ließ den Wagen stehen und trat zum Bett, um die Patientin zu untersuchen. Diese schien ruhig zu schlafen. Medizinisch gab es also nichts zu tun, weshalb Mary sich neben Oscar aufs Bett setzte und überlegte, welche Angehörigen es gab. Seit Frank einige Monate zuvor an einem Herzinfarkt gestorben war, hatte niemand Ruth besucht. Sie hatte ihre Geschwister überlebt, sie hatte keine Kinder, und die ihr am nächsten stehende Person war ihr Rechtsanwalt. Das hieß, es gab womöglich niemanden, den man anrufen konnte.
    Mary streckte die Hand aus und strich Ruth liebevoll übers Haar. Dann fiel ihr Blick auf den leeren Sessel gegenüber. Eine gehäkelte Decke hing zusammengefaltet über der Lehne wie schon seit Monaten. Traurig dachte Mary daran, wie oft sie Frank dort schlafend vorgefunden hatte, lange nachdem alle anderen Besucher abends das Heim verlassen hatten. Manchmal hatte sie ihn nach Hause schicken müssen. Dann hatte er brummig seine Sachen eingesammelt und seiner Frau einen Gutenachtkuss gegeben, um zu seinem Wagen zu trotten. Früh am nächsten Morgen war er jedoch schon wieder da gewesen. Seit dem Vorfall am letzten Jahrestag der beiden war er jedoch nicht mehr aufgetaucht, sondern hatte nur noch täglich angerufen. Eines Tages war dann auch dieser Anruf ausgeblieben. Wenig später hatte ein besorgter Freund ihn tot im Bett liegend vorgefunden.
    Als Mary nun Ruth aufmerksam beobachtete, sah sie ein feines Lächeln auf deren Gesicht. Vielleicht träumte sie
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