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Orchideenstaub

Orchideenstaub

Titel: Orchideenstaub
Autoren: Tanja Pleva
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Hausangestellten in diesem Land nur einen Tag am Wochenende dienstfrei haben, fuhren sie meist zu ihren Familien, in Aleidas Fall zu ihrer Schwester, wo ein Lagebericht abgegeben wurde. „Nach dem Motto: Was gibt’s denn Neues? Stell dir vor der Rafael hat eine heimliche Freundin und die ist auch noch schwanger bla bla bla …“
    „Na schön, das klingt ja noch einigermaßen logisch, aber was hat das mit ihrem Neffen auf sich?“, fragte Juri.
    „Das gilt es herauszufinden, Kleiner.“
    Sam hatte sich die Daten der Angestellten angesehen, die in den letzten zwanzig Jahren im Heim ein- und ausspaziert waren. In den Büchern standen zwar nur die legal beschäftigten, aber er hatte sich sagen lassen, dass auch immer wieder Aushilfen dort arbeiteten, wie Felipe Rodriguez. Vor fünfzehn Jahren hatte gelegentlich auch ein Zwölfjähriger in der Pathologie ausgeholfen. „Als Leichenwäscher und Präparator“, sagte Sam und hob die rechte Augenbraue. Hier musste der Junge auch seine anatomischen Kenntnisse herbekommen haben. Vielleicht hatte er sogar selbst gelegentlich an Leichen herumgeschnippelt.
    „Du machst Witze. Mit zwölf habe ich noch auf dem Spielplatz gebuddelt …“
    „Gib zu, dass du dort immer noch gerne buddelst.“
    „Erwischt. Aber nicht allein.“ Juri zwinkerte Sam zu und grinste breit. „Also ich hätte mich zu Tode erschrocken, wenn ich in diesem Alter einen Toten gesehen hätte.“
    „Das ist die Dritte Welt. Ich meine, sieh dir nur die Straßen an, überall stehen an den Ampeln fünf- bis zehnjährige Kinder und jonglieren Bälle, verkaufen Kaugummis oder anderes Zeugs.“
    „Und was hat das mit dem Jungen auf sich?“
    „Er kam aus Aleidas Familie. Sie hat sich öfter nach ihm erkundigt. Aber, und jetzt kommt’s: Der Junge war blond und hatte blaue Augen. Kommt hier zwar auch vor, dass sich irgendwelche Gene unbekannter spanischer Vorfahren in einer Generation durchsetzen, aber so häufig ist das nun auch wieder nicht. Als jemand von dem Personal einen Scherz darüber machte, ob der Chef fremd gevögelt hätte, kam der Junge nicht mehr zur Arbeit. Keiner machte sich Gedanken darüber. Leute kommen, Leute gehen.“
    Juri war tief beeindruckt von Sams Recherchen und wie er die Dinge zusammenbrachte. „Aber warum sollte der Neffe von Aleida nach Deutschland fahren und herummorden? Das will mir immer noch nicht einleuchten.“
    Sam grinste. Anscheinend hatte er eine ziemlich genaue Vorstellung von dem Warum und Weshalb.
     
    Es war der dritte Tag in Folge, dass der Priester am Krankenbett von Heinrich Thiel saß und ihm die Beichte abnahm. Jeden Tag schien der Priester mehr Ballast aus dem Zimmer zu nehmen und der alte Mann von Tag zu Tag blasser und schwächer zu werden.
    Sam klopfte an die Tür und betrat, ohne eine Antwort abzuwarten, das Zimmer.
    „Entschuldigen Sie, aber wir müssen Herrn Thiel noch ein paar Fragen stellen, bevor er sich ganz verabschiedet.“
    Der Priester sah Sam verständnislos an.
    „Oder nennen Sie ihn von mir aus auch Señor Rodriguez.“
    Der Priester bekreuzigte den Sünder und sich selbst und verließ gebeugt das Krankenzimmer.
    Sam zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich, während Juri hinter ihm stehen blieb.
    „Ich werde Ihnen nichts mehr erzählen. Sie sind umsonst gekommen.“
    „Was haben Sie vor siebenundzwanzig Jahren mit Maya, der Freundin ihres Sohnes angestellt?“, fragte Sam in eisigem Ton.
    Thiel starrte an die Decke und kniff den Mund zusammen. Er erinnerte eher an ein trotziges Kind, als an einen mehrfachen abgebrühten Mörder.
    „Ich warte. Aber nicht mehr lange, dann wird Ihnen die Luft knapp." Sam stand auf und klemmte den Schlauch ab, durch den Thiel seinen Sauerstoff bekam, während Juri sich so davorstellte, dass es keiner von draußen sehen konnte.
    „Ich sterbe sowieso in den nächsten Tagen“, japste der alte Mann und rang nach Luft.
    „Eben aus diesem Grund sollen Sie mir erzählen, was vor siebenundzwanzig Jahren passiert ist. Denken Sie einmal nicht nur an sich selbst. Tun Sie es Ihrem Sohn zuliebe. Er hat nämlich nicht die leiseste Ahnung, dass sie für den Beginn seiner Schicksalschläge verantwortlich sind.“ Sam ließ wieder Sauerstoff durch den Schlauch strömen und Thiel atmete tief durch.
    „Sie haben das fünfte Gebot, füge weder deinem Nächsten noch dir selbst Schaden zu, was so viel bedeutet, das man nichts tun soll, wodurch menschliches Leben genommen, verkürzt oder verleidet wird, so oft gebrochen,
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