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Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)

Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)

Titel: Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)
Autoren: Frank Schulz
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ebenso abrupt, aber präzis die Sichtachse in die räumliche Tiefe eines geländergesicherten Stegs. Dieser Steg wurzelt im nuancenreich begrünten Ufer. Und dort, im perspektivischen Fluchtpunkt, entspringt, untermalt von nun deutlicherem Geknatter und Viertaktergequengel, bereits avisierte Enduro.
    Da hinten macht sich deren Fahrer noch vage aus – ein menschliches Ding, ein Unding. Ein Kannibalenhäuptling oder so was. Oder Stuntman? Kostümierter, maskierter Werbeträger für das Deathmetal-Grusical Satan’s Soul , das grad im Hafen anlief? Eigentlich nimmt man zunächst nicht viel mehr als Buntheit wahr, und Bulligkeit. Und, so viel kann man auf den ersten Blick sagen: Der Schädel wirkt bizarr. Ohne daß man hätte sagen können, inwiefern. (Zumal … Trägt er etwas quer im Gesicht? Apportiert er etwas?) Kommt jedenfalls mittels Enduro auf den Betrachter zugebrettert, und mit dem Crescendo der Beschleunigung steigt die Frequenz des Plankengeratters.
    Nun war es so, daß Dagmar einst Herz und Hymen einem Dürener Ghettoprinzen geschenkt hatte, der Geländerennen fuhr. Das war dreißig Jahre her, doch in einer empfindsamen Seelenlage wie auf dieser Strohwitwentour, da fiel der Gänsehaut im Nacken Wiederauferstehung leicht. Als Erweckungssignal reichte der Enduro-Sound. Und im Zuge dieses Schauderns, im Zuge der Schwüle und des Katers betätigte Dagmar – ein Reflex – den Zoom. Wie in einem Spaghetti-Western ruck, zuck in der Totalen: Kopf und vornübergekauerter Torso des Fahrers. Durch dessen eigene rasche Vorwärtsbewegung gleich wieder aufgelöst in Unschärfe.
    Horrormasken gehörten zur Folklore ihrer Kindheit. Dennoch erschrak Dagmar – meinte sie im Schock der allzu prompten Vergrößerung doch erkannt zu haben, daß die Hirnschale des Fahrers ab Hutschnurlinie fehle und all der Blumenkohl offen zutage liege (aus welchem, wie um den groben Unfug abzurunden, auch noch zwei Stummelhörner herauszuragen schienen). Worüber sie die übrigen grauenerregenden Details des irren Hünen vorerst übersah.
    Der »irre Hüne« (Hamburger Expreß Zeitung = HEZ), der »Teufel vom Kiez« (Hamburger Abendpost), die »Horrorkreatur« (Agora TV Hamburg), das »Alstermonster« (Aalkooger Bote). Preschte auf Dagmars Linse zu – vorgebeugt und in der Hocke, aber ohne Sattelberührung. (Eine Gesäßbacke war verletzt.)
    Vor Schreck zoomte Dagmar rückwärts, erweiterte die Perspektive also wieder. Gerade pünktlich genug, um einfangen zu können, wie der ellenlange Gegenstand, der quer im Mund des Hünen klemmt und in der Sonne aufblitzt, im Vorüberrasen das Blatt einer Kübelpalme absäbelt – woraufhin hinter dem Motorrad eine Wolke aus jenen mysteriösen seidenschwarzen Schmetterlingen explodiert, deren biologische Sensation in jenem Sommer unter den Lepidopterologen der Welt Furore machte. So daß der anschließende Sprungflug des apokalyptischen Reiters in die Alster vor symbolischer Kulisse vonstatten geht, einer Kulisse von Dutzenden taumelnder ›Schwarzer Engel‹, wie jene Repräsentanten der Jugend sie tauften, die sich Gruftis nennen, oder Gothics. Ein weiterer Zufallsgrund für den weltweiten Hype um diesen Internetfilm.
    Als der Hüne auf seiner Enduro ins Wasser flog, befanden sich auf der Terrasse des Cafés Lorbaß, das in den Alsteranleger integriert war, abgesehen von Gastronomiekräften fünf Personen. (Drei davon konnten später nicht mehr ermittelt werden.) Für mehr Betrieb war es einfach zu heiß – schon um diese Tageszeit 31,1 Grad Celsius –, und außerdem würden die Ferien des Bundeslandes Hamburg erst am darauffolgenden Mittwoch enden. Nicht zuletzt das war der Grund, weshalb dem ›I.   Moderlieschen-Fest‹ ein Flop vorhergesagt worden war.
    Das Moderlieschen ( Leucaspius delineatus ) ist ein unscheinbares Fischchen, das in stehenden und schwach fließenden Gewässern vorkommt. Hat wirtschaftlich kaum Bedeutung, taugt selbst für Angler bestenfalls zum Zanderköder. Ab dem Vorjahr war sein Bestand nichtsdestoweniger plötzlich bedroht. Schon wurde es zum Symboltier eines neuen Alsterfestes. Zwischen Christopher-Street-Day und Cyclassics war noch ein Wochenende frei.
    Die Umsetzung allerdings gestaltete sich einfallslos. In welchem Maße, läßt sich an dem Faktum ablesen, daß der Einsatz der Schlumper Shantyboys, der Poppenbütteler Pennschieter und ähnlicher Unterhaltungskoryphäen auf den Liniendampfern der weißen Alsterflotte noch zu den besten Ideen
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