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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Autoren: John Dickie
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wuchsen die Mafias mit ihm. Ungeachtet dessen, was die faschistische Propaganda vielen Menschen weiszumachen versuchte, überlebten die kriminellen Vereinigungen unter Mussolinis Regime, unterwanderten es sogar. Im Frieden und der Demokratie, welche die Zeit seit 1946 prägten, gediehen sie schließlich besser denn je. Als Italien sich in den 1960 er Jahren in eine der reichsten kapitalistischen Wirtschaften verwandelte, wurden die kriminellen Vereinigungen stärker, reicher und brutaler als je zuvor. Sie vervielfältigten und verbreiteten sich, erzeugten neue Mafias und neue Plagen in Gegenden des Staatsgebiets, die zuvor immun zu sein schienen. Italien ist ein junges Land, eine moderne Schöpfung; und die Mafias sind eines der Symptome dieser Modernität, auf italienische Art.
    Dort, wo die Macht der Mafia am stärksten ist, in den ländlich geprägten Regionen, ist sie heute nichts weniger als ein verbrecherisches Regime. In einem geheimen Bericht aus dem Jahr 2008 , der auf die Website von Wikileaks geriet, schilderte der Generalkonsul der Vereinigten Staaten in Neapel die Zustände in Kalabrien, der Region an der Spitze des italienischen Stiefels, in der die ’Ndrangheta heimisch ist. Man kann sich über die eine oder andere seiner Statistiken streiten, aber der Kern der Diagnose ist ebenso wahr wie ernüchternd:
    »Das Verbrechersyndikat ’Ndrangheta kontrolliert große Teile des Hoheitsgebiets und der Wirtschaft Kalabriens und erzielt mindestens drei Prozent von Italiens Bruttoinlandsprodukt (wahrscheinlich weit mehr) durch Drogenhandel, Erpressung und Wucher (…) Ein Großteil der kalabrischen Industrie ist bereits vor über zehn Jahren zusammengebrochen. Das Ergebnis: Umweltschäden und wirtschaftlicher Ruin. Die Region steht in beinahe jeder Wirtschaftsdisziplin innerhalb Italiens an letzter Stelle. Die meisten Politiker vor Ort, mit denen wir sprachen, waren der fatalistischen Auffassung, dass der ökonomischen Abwärtsspirale des Landes und dem Würgegriff der ’Ndrangheta wenig entgegenzuhalten sei. Andere wiederum behaupteten verlogen, das organisierte Verbrechen stelle längst kein Problem mehr dar (…) Niemand hier glaubt, dass die Regierung in Rom auch nur den geringsten Einfluss auf die Verhältnisse in Kalabrien hat, und Politiker vor Ort gelten ausnahmslos als ineffektiv und/oder korrupt. Würde Kalabrien nicht zu Italien gehören, wäre es ein gescheiterter Staat.«
    Italien war schon immer eine Gesellschaft mit tiefreichenden Problemen. Dennoch ist das Land weder eine südamerikanische Bananenrepublik oder eine verarmte Warlord-Domäne in Asien noch die Ruine eines zerschlagenen osteuropäischen Staates. Wenn sich unsere Landkarten nicht fatal irren, befindet sich die wie ein Stiefel geformte Halbinsel keineswegs in einer Region der Welt, in der die Autorität des Staates erwartungsgemäß durch eine gewalttätige raubgierige alternative Macht untergraben wird. Italien ist ein vollwertiges Mitglied in der Familie westeuropäischer Nationen. Doch als einzige unter diesen Nationen beherbergt es die Mafias. Hierin liegt sowohl die Faszination als auch die dringende Notwendigkeit einer Geschichte der Mafia begründet.
    Die Beschäftigung mit der Geschichte der Mafia ist allerdings ein junges Forschungsfeld, entstanden nach der beispiellosen Mafiagewalt der 1980 er und frühen 1990 er Jahre, als italienische Wissenschaftler begannen, ihre Empörung in geduldige und konsequente Forschung umzusetzen. Die überwältigende Mehrheit dieser Historiker, deren Zahl beständig wächst, stammt gerade aus jenen südlichen Regionen, die am schlimmsten von Italiens permanentem kriminellen Ausnahmezustand betroffen sind – Regionen, in denen auch heute noch Mafiageschichte geschrieben wird. Einige dieser Forscher sind, so wie ich, in der glücklichen Lage, einen Lehrstuhl innezuhaben. Andere sind Richter und Juristen, wieder andere einfach nur engagierte Bürger. Doch sie alle sind fest entschlossen, den Lügen und Mythen der Mafia, die weitaus heimtückischer sind, als es der Humbug von den spanischen Rittern zunächst glauben machen könnte, mit harten Fakten und offenen Debatten zu begegnen. Es gibt wohl nur wenige Bereiche in der Geschichte, in denen die Erforschung der Vergangenheit einen so direkten Beitrag zu einer besseren Zukunft leisten kann. Um die Mafias zu besiegen, gilt es zunächst zu verstehen, was sie eigentlich sind; und sie sind genau das, was die Geschichtswissenschaft uns offenbart,
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