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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Autoren: John Dickie
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Eisen und Ketten.«
    Der Boss schritt sodann im Zimmer umher und nahm jedem ’Ndranghetista die Werkzeuge seiner Zunft ab. Dabei äußerte er bei jedem Innehalten dieselbe Formel:
    »Im Namen unseres gestrengen Erzengels Michael, der eine Waage in der einen und ein Schwert in der anderen Hand trug, beschlagnahme ich eure Waffen.«
    Die Bühne war nun bereitet, und der Vorsitzende konnte seine Rede zur eigentlichen Zeremonie halten.
    »Die Gesellschaft ist ein Ball, der um die ganze Welt wandert, kalt wie Eis, heiß wie Feuer, weich wie Seide. Lasst uns schwören, schöne Freunde, dass ein jeder, der die Gesellschaft verrät, dies mit fünf oder sechs Dolchstößen in die Brust bezahlen wird, wie die gesellschaftlichen Regeln es verlangen. Silberkelch, geweihte Hostie, mit Worten der Demut forme ich die Gesellschaft.«
    Ein weiteres »Danke« ertönte, während die ’Ndranghetisti näher zusammenrückten und die Arme verschränkten.
    Dreimal fragte der Boss nun seine Kameraden, ob Zagari bereit sei, in die Ehrenwerte Gesellschaft aufgenommen zu werden. Als er dreimal dieselbe positive Antwort erhalten hatte, öffnete sich der Kreis, und sofort tat sich zur Rechten des Bosses für den Neuankömmling eine Lücke auf. Der Boss nahm ein Messer und ritzte in den linken Daumen des Neulings ein Kreuz, so dass Blut aus der Wunde auf ein spielkartengroßes Abbild des Erzengels Michael tropfen konnte. Der Boss riss sodann den oberen Teil des Bildchens mitsamt dem Kopf des Erzengels ab und verbrannte den Rest in einer Kerzenflamme, ein symbolischer Akt für die völlige Vernichtung potentieller Verräter.
    Erst jetzt durfte Zagari den Mund auftun, um den Eid der ’Ndrangheta abzulegen:
    »Ich schwöre vor der organisierten und getreuen Gesellschaft, vertreten von unserem verehrten und weisen Oberhaupt, und vor allen Mitgliedern, dass ich sämtliche Pflichten erfüllen werde, für die ich verantwortlich bin und die man mir auferlegen wird – falls nötig sogar mit meinem Blut.«
    Der Boss küsste nun das neue Mitglied auf beide Wangen und erläuterte ihm den Ehrenkodex. Als Abschluss der Zeremonie folgte eine weitere surreale Beschwörung:
    »O herrliche Demut! Du hast mich mit Rosen und Blumen bestreut und auf die Insel Favignana getragen, um mich dort die ersten Schritte zu lehren. Italien, Deutschland und Sizilien führten einen erbitterten Krieg. Viel Blut ist geflossen für die Ehre der Gesellschaft. Und dieses Blut, in einem Ball gesammelt, wandert nun um die Welt, kalt wie Eis, heiß wie Feuer und weich wie Seide.«
    Die ’Ndranghetisti durften sich schließlich ihre Waffen nehmen – im Namen von Osso, Mastrosso, Carcagnosso und dem Erzengel Michael – und ihren kriminellen Alltag fortsetzen.
    Dieses pompöse Gefasel klingt, als sei die ’Ndrangheta eine Version der Jäger in Goldings
Herr der Fliegen
, mit einem Schuss
Ritter der Kokosnuss
von Monty Python. Es würde einer gewissen Komik nicht entbehren, brächte das Ergebnis nicht so viel Tod und Elend. Und doch ist die bizarre Phantasiewelt des ’Ndrangheta-Rituals durchaus zu vereinbaren mit der brutalen Wirklichkeit, die von Morden und Kokaingeschäften geprägt ist.
    Initiationsrituale sind für die ’Ndrangheta noch weitaus wichtiger als die Legende von Osso, Mastrosso und Carcagnosso, weil sie ihr eine Aura altehrwürdiger Vornehmheit verleihen. Ganz gleich, in welcher Lebensphase die Aufnahmerituale der Mafia stattfinden, sie sind doch stets eine
Taufe
, um Antonio Zagari zu zitieren. Wie die Taufe steht auch diese Zeremonie für eine Identitätsänderung und zieht eine blutige Linie zwischen dem einen Seinszustand und dem nächsten. Kein Wunder, dass ’Ndranghetisti sich aufgrund der Rituale, die sie durchlaufen, als Mitglieder eines eigenen Stammes betrachten. Die Initiation eines kalabrischen Mafioso ist in der Tat ein besonderer Tag.
    Der 15 . August 2007 in Duisburg war auch so ein besonderer Tag. Am Morgen nach dem Massaker untersuchte die deutsche Polizei die verstümmelten Leichen der Opfer nach Hinweisen. Sie fand ein halb verbranntes Heiligenbildchen des Erzengels Michael in der Tasche des Jungen, der seinen 18 . Geburtstag gefeiert hatte.
    Auch die sizilianische Mafia, bekannt als Cosa Nostra, hat ihre Mythen und Zeremonien. Viele Mafiosi halten beispielsweise an dem Irrglauben fest (zumindest bis vor kurzem), ihre Organisation sei ursprünglich ein mittelalterlicher Geheimbund gewesen, dessen Kapuzen tragende Mitglieder sich als
Beati
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