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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz
Autoren: Alex Rühle
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nicht still.«
    Eine Realschulklasse diskutierte im Ethikunterricht derart hitzig über meinen Selbstversuch, dass der Lehrer sie bat, mir zu schreiben. Die meisten Schüler betonen in ihren Briefen, dass sie das niemals schaffen würden, sechs Monate ganz ohne, wobei sie unterschiedliche Erklärungen dafür haben:
    »In der heutigen Zeit und vor allem bei unserem momentanen Wetter kann man gar nichts anderes machen, als sich vor den Computer zu setzen.«
    »Ich bin erst vor kurzem nach München gezogen und muss mir hier neue Ärzte suchen. Da ist das Internet sehr hilfreich, hätte ich keines, müsste ich in meiner Gegend suchen gehen oder die Bürger fragen. Dies wäre mir aber sehr unangenehm.«
    »Ich find Ihr Experiment schon interessant, aber auch ein bisschen verwunderlich. Wie halten Sie es denn aus, ohne Ihr Handy, mit Freunden in Kontakt zu bleiben? Klar kann man sich auch spontan treffen, aber wie ohne davor Bescheid zu bekommen? Die Vorstellung, keinen Computer oder kein Internet benutzen zu dürfen, ist für mich völlig unvorstellbar.«
    »Selbstversuch ohne Internet ist totale Zeitverschwendung und erschwert einem sinnlos Zugang an Informationen.«
    Der Lehrer dieser Realschüler sagt, als ich ihn anrufe, um mich für die Briefe zu bedanken, er habe das Gefühl, die Handys seien mittlerweile Körperteile der Schüler: »Wie das alle zwei Minuten aus der Hosentasche in die Hand rutscht: Kurzer Blick, ob neues Leben drin ist, und zurück in die Tasche. Wenn die Tür des Klassenzimmers aufgeht, kommt meist erst das Handy rein und dann der Schüler.« Er lacht und ergänzt, er verstehe schon, dass die Schüler so viel ins Netz flüchten, »die leben in pädagogisch rundum betreuten Räumen. Wann können die frei spielen, irgendwo draußen, stundenlang, nur für sich? Die sitzen nachmittags in ihren Zimmern und wären gern woanders. Gehen sie halt stattdessen ins Netz.« Als er das sagt, fällt mir der Junge wieder ein, der seit Wochen am Rand meines Langzeitgedächtnisses entlangläuft, mittags um halb eins, an der Kapuzinerstraße, mit seinem hinterherschleifendem Jackenärmel und dem Handy am ohr: »Ja, ich komm jetzt. Hab ich. Ja.»
    Der Direktor des Lehrinstituts Bauer klagt bei einem Telefonat, seine Schüler seien »absolut abhängig und zwar flächendeckend. Die höchste Strafe ist für die, wenn man ihnen das Handy wegnimmt. Wir machen das seit einiger Zeit rigoros. Wer mit Handy erwischt wird, der ist es bis zum Schuljahresende los. Das Problem ist nur, dass sie nach zwei Tagen ein neues haben. Die halten’s nicht aus ohne.« Er habe viele Spielsüchtige an der Schule, die »im Leben überhaupt nicht mehr zurechtkommen. Deren Eltern sind vollkommen hilflos und verhalten sich wie Co-Abhängige: Solche Jugendliche sind wie Höhlenmenschen, die nicht rausgehen, solange Fleisch da liegt und die Höhle warm ist.« Als ich frage, ob er nicht stark generalisiere, sagt er: »Wenn Sie mir nicht glauben, kommen Sie vorbei, ich gehe mit Ihnen durch alle Klassen.«
    14. MAI
    All meine Projektionen zu Axels ganz und gar freiem Leben erhalten einen Dämpfer, als wir ihn auf der Flaucherwiese zusammen mit seinem Sohn und seiner Frau Katalin treffen. Als sie hört, wie ich von seiner inneren Autarkie schwärme, zieht sie die Augen etwas spöttisch zusammen und sagt, der habe schon auch »ein ziemlich inniges Verhältnis zu dieser Maschine«. Sie meint sein neues weißes Smartphone, an dem er gerade wieder zugange ist, weshalb man momentan nur den Scheitel seiner Haare sieht. Und man muss sich schon sehr anstrengen, um seine lasche Replik, das stimme doch gar nicht, zu hören, so leise, wie er sie auf sein Display hinuntermurmelt. Als er dann aber aufblickt, sagt er, ich würde in Sachen lebenstechnischer Freiheit viel zu viel in ihn hineingeheimnissen. »Meine ganze Arbeitskonstruktion ist doch enorm wackelig, und ich quäl mich viel rum, sowohl mit dem Onlinekram als auch mit den Texten, die ich für mich schreibe. Außerdem funktioniert die Balance nur, weil - Katalin als Lehrerin, mit ihrem sicheren Einkommen und ihrer Festanstellung; ich mit dieser freien Konstruktion, da lebt jeder für den anderen was mit.«
    15. MAI
    Ein Freund, der eine schwere Krankheit hat, erzählte am Samstag beim Abendessen, in zwei Tagen würde er wieder auf seinen »Trip« gehen. Er muss von Zeit zu Zeit eine hohe Dosis Kortison nehmen, die ihn dann auf eine Achterbahnfahrt schickt. »Meist bin ich zwei Tage ziemlich high und
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