Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz
Autoren: Alex Rühle
Vom Netzwerk:
decke all meine Freunde mit überschwänglichen Liebeserklärungen ein. Sei froh, dass du momentan nicht online bist, sonst hättest du vielleicht auch so was Delirierendes in deinem Fach.« Am Mittwoch komme dann voraussichtlich der Absturz.
    Am Sonntag habe ich eine Karte geschrieben, in der ich ihm eine gute Hoch-Zeit wünschte. Am Montag rief er an. Grabesstimme. Es gehe ihm dreckig. Er fühle sich so alleine. Als wir wieder aufgelegt haben, habe ich die Karte weggeschmissen und eine neue geschrieben: Dass er bald aus dem Keller rauskommen möge. Heute ruft er an: Danke für die Karte, aber als sie ankam, sei er schon wieder im Lot gewesen.
    Was ist die Mail doch für eine fabelhafte Erfindung! Dieses um einen Tag Versetzte der Post – als würde die Tonspur eines Films den Bildern hinterherhängen.
    16. MAI
    In Axels Bürowohnung lebt noch ein netter junger Mann, der in einem nahe gelegenen Kindergarten ein soziales Jahr macht. Sven spielt jeden Nachmittag, wenn er von der Arbeit mit den Kindern kommt, erst mal zwei Stunden Krieg, am liebsten ein Rollenspiel namens »Call of Duty IV«. Er telefoniert sich per Skype mit ein paar Dortmunder Freunden zusammen und klönt mit ihnen, während er auf deren Soldatenavatare ballert. Und er sagt: »Wenn das stimmt, was die Medien über Amokläufer schreiben, hätte ich längst losziehen müssen. Mir haben sie um einen einzigen Punkt mein Abi nicht gegeben. Und ich hab damals schon täglich gespielt. Hab das optimale Profil: Egoshooter und Schulversager.« Während er das erzählt, läuft sein Soldat durch eine Kriegsruinenlandschaft, könnte Bagdad sein oder Beirut, ballert, lädt, ballert, springt hinter einem Hinterhalt hervor, ballert, lädt, der Bildschirm ist kurz blutverschmiert, scheint getroffen zu haben, sein Avatar läuft weiter, und Sven sagt ins Headset zu seinem toten Freund: »Alter, hast geschlafen, oder was?«
    Das war gestern. Gerade eben sah ich ihn am Roecklplatz, mit zehn Kindergartenkindern, wie er bunte Becher auf einen Holztisch stellte.
    20. MAI
    Ein Vormittag im Lehrinstitut Bauer, ich gehe durch zwei zehnte und zwei zwölfte Klassen. Im ersten Klassenraum, in den ich komme, liegt an der Tafel ein iPhone, das gerade aufgeladen wird. »Wie jetzt? Euer Direktor hat mir am Telefon gesagt, er nimmt euch die Handys sofort ab und verwahrt sie dann bis zum Ende des Schuljahres.« Großes Gelächter. Einer ruft aus der letzten Bank: »So einen großen Schrank hat der gar nicht.«
    Ich erzähle von meinem Experiment und von meinem neurotischen Verhältnis zu meinem Blackberry. Spätestens, wenn ich von Thomas Mohols Phantomschmerz im Gefängnis berichte, dem Vibrieren in der leeren Hosentasche der Anstaltskleidung, gehen in den Klassen jedes Mal die Schleusen auf, kenn ich, hab ich täglich, alter Hut: »Oft halte ich das Handy in der Hand und glaube trotzdem, das Summen in der Tasche zu spüren.« – »Wenn ich zu Hause bin, hab ich manchmal das Gefühl, mein Zimmer vibriert.« – »Ich hör’s oft läuten, obwohl’s aus ist.« – »Ich sehe oft aus dem Augenwinkel das rote Signalleuchten, obwohl das Ding gar nicht an ist.« – »Bei ganz vielen Alltagsgeräuschen denk’ ich: iPhone klingelt.«
    Die Konrektorin des Sophie-Scholl-Gymnasiums hatte in ihrem Brief betont, dass wir alle momentan einfach noch nicht wüssten, »wie man mit diesen Dingern umgeht«. Das Smartphone auf dem Hausaufgabentisch liegen zu haben ist ungefähr so sinnvoll, wie Hausaufgaben im Kino zu machen.
    Facebook gehört zum Lebenshintergrund dazu wie die Schule oder das Zuhause. Immer heißt es, man verpasse was, wenn man nicht reinschaue. Klingt wie ich, mit meinen Mails früher. Als eine Schülerin sagt, das sei halt so schön, wenn man zu Hause sei und trotzdem bei allen anderen, muss ich an Gerhard Polt denken, der mir mal erzählte, er habe bei Sabine Christiansens Talkshow mit der Begründung abgesagt, um die Zeit könne er leider prinzipiell nicht, da sei er nämlich immer daheim. »Das wollte die partout nicht akzeptieren«, sagte Polt verwundert. Ich verstehe nicht, warum ich nicht absagen kann mit der Begründung, ich wohne gerne. Das hat einen hohen Stellenwert für mich. Warum gilt das nicht als Entschuldigung?«
    Ein Schüler ruft: »Ey, was wollen Sie, ich hab vor ein paar Tagen mal ausgemacht.«
    »Oh, wie lange denn?«
    »Eine Stunde.«
    Ein Mädchen sagt, sie würde ihr Handy gern manchmal ausmachen, das gehe aber nicht, sie brauche das Simsen.
    Ihre
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher