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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz
Autoren: Alex Rühle
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sagte, »der Staat weit und breit nicht zu sehen war«.
    Da er in der folgenden Zeit immer wieder danach gefragt wurde, warum um Gottes willen er denn freiwillig ins Gefängnis gegangen sei, schrieb er einen Vortrag, aus dem später sein zu Lebzeiten berühmtester Essay werden sollte: »Civil Disobedience«. Sein zentrales Argument: Es gibt ein Gesetz, das über dem zivilen Gesetzbuch steht: das eigene Gewissen. Wenn die beiden miteinander in Konflikt geraten, müsse man seiner inneren Stimme folgen. Indem er ins Gefängnis ging, wollte er an das Gewissen seiner Landsleute appellieren, dass sie gegen die Sklaverei protestieren und so die »Maschinerie der Tyrannei verstopfen«. Dieser Aufsatz wurde sowohl für Gandhi als auch für Martin Luther King einer der wichtigsten Texte.
    Wer jetzt sagt, das hat ja gar keinen Internetbezug, dem sage ich, doch, hat es sehr wohl. Ich wollte nämlich ursprünglich etwas ganz Anderes erzählen, las mich dann aber in der Thoreau-Biographie von Walter Harding fest. Und genauso ist das im Netz auch: Dauernd googelt man irgendetwas, findet stattdessen etwas anderes, liest sich fest und weiß am Ende gar nicht mehr, warum man ursprünglich ins Netz gegangen ist. Axel wollte mir in den vergangenen Monaten zweimal Sachen ausdrucken, einmal einen Text darüber, dass in der arabischen Welt viele Männer nicht mehr heiraten würden, weil sie es vorzögen, sich im Internet einen runterzuholen. Und dann glaubte er, sich an eine Onlinestudie zu erinnern darüber, dass immer mehr Doktoranden Schwierigkeiten hätten, konsistente Texte abzugeben, weil sie nur noch mit Copy and Paste arbeiten. Beide Texte fand er nicht, legte mir aber jeweils etwas anderes auf den Tisch, was er im Zuge seiner Suche gefunden hatte. »Nimm’s als digitalen Bonustrack«, sagte er beim zweiten Mal. Thoreaus ziviler Ungehorsam ist mein analoger Bonustrack in diesem Tagebuch.
    Apropos Gefängnis: Thomas Mohol schrieb vor zwei Tagen, er werde voraussichtlich vorzeitig entlassen wegen guter Führung. Jetzt rufe ich seine Eltern an, bei denen er wohnt, wenn er Ausgang hat, um zu fragen, ob er vielleicht über Pfingsten auf Besuch komme. »Nein«, sagt seine Mutter. »Über die Feiertage darf keiner raus. Aber so wie’s aussieht, ist er im August wieder draußen.« Ich gratuliere ihr. Das Gemisch aus Freude, Scham, Trauer und Stolz geben ihrer Stimme einen seltsam schlingernden Klang. Sie sagt noch, er könne mit den vielen Briefmarken, die sie ihm im Verlauf der Monate ins Gefängnis geschickt habe, draußen ein Postamt aufmachen, als Übergangslösung.
    12. MAI
    Die letzten Wochen bei Axel. Mein Arbeitszimmer sieht völlig anders aus. Der Raum ist noch immer recht karg eingerichtet, weiße Wände, Schreibtisch, Schrank, im Januar und März war das Zimmer randvoll mit strahlend kahlem Licht. Aber während meiner April-Abwesenheit ist die riesige Kastanie direkt vor dem Fenster aufgeblüht. Jetzt herrscht hier drinnen Aquariumszwielicht, grünliches Urwalddunkel. Fühlt sich an wie in einem Baumhaus. Walden II.
    13. MAI
    Auf meinen Rundbrief an die Münchner Gymnasien und Realschulen habe ich zehn Antworten bekommen. Nahezu alle Direktoren und Lehrer betonen, die Konzentrationsschwierigkeiten hätten nicht mit den Handys oder dem Netz, sondern mit dem Fernsehen angefangen, genauer gesagt mit den Werbeunterbrechungen, die die Filme zerrupfen. Mehrere Direktoren betonen jedoch auch, dass die schnelle Auffassungsgabe und Aufbereitung von Themen und Stoffen beeindruckend sei. »Man kriegt heute Referate geliefert, davon hätten Lehrer vor 20 Jahren nur träumen können«, sagt der Direktor des Albert-Einstein-Gymnasiums. Gisela Mertel vom Sophie-Scholl-Gymnasium ergänzt, es sei beeindruckend, wie schnell die Schüler Sachtexte nach Informationen zu durchsuchen in der Lage seien. Mertel hält die Angst vor dem Internet für überzogen. »Als ich selbst jung war, empfanden unsere Eltern es als Katastrophe, dass wir uns plötzlich täglich von Plattenspielern beschallen ließen. Ist halt gerade mal wieder Kulturschock, aber das wird sich einpegeln. Richtig problematisch sind die sechsten und siebten Klassen. Wie die sich teilweise dissen im Netz, das ist grauenhaft. Vor kurzem kam die Jugendpolizei an die Nachbarschule. Da hatten ein paar Jungs ein Facebook-Foto von einem Klassenkameraden zusammen mit dessen Telefonnummer ausgedruckt und am Scheidplatz aufgehängt. Da ist der Schwulenstrich. Bei dem Jungen stand das Telefon
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