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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz
Autoren: Alex Rühle
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gefunden hätte. Ich dosiere nur anders als früher.
    8. MAI
    Endlich habe ich ein Rezept gegen den fettigen Staubfilm, der sich in Momenten der Bürodepression immer ums Herz legt: 1) Zementmantsche anrühren in riesigen Zubern. 2) Alte Ziegel aufeinanderschichten. 3) Alles mit der Maurerkelle verfugen.
    Warum hat mir bislang keiner gesagt, dass das nach Bäumepflanzen das Befriedigendste ist, was es überhaupt gibt? Man sollte Maurerkurse in der Toskana anbieten. Naja, vielleicht ist das mehr so ein Männerding. Wir vier Nachbarn jedenfalls haben selbstversunken vor uns hingewerkelt, stundenlang: An der Stelle, an der ich im November den Haselnussbaum gepflanzt und ein schüchtern winziges Baumbeet angelegt habe, haben wir heute mit großer Geste gesagt: Es werde Licht! Wir haben diese fiesen Fliesen rausgehebelt und in den Keller getragen, bis eine fünfzehn Quadratmeter große Fläche freigelegt war. Da kam dicker schwarzer Humus drauf. Und dann haben wir aus uralten, rötlichen Ziegelsteinen selber diese Mauer gebaut. Ich habe heute Abend noch siebenoder achtmal vom Balkon aus in den Hof heruntergeblickt, wie ein Kind, das an Weihnachten vorm Einschlafen immer noch mal seine Carrera-Bahn anschauen muss.
    10. MAI
    Ist irgendwie mehr geworden bei dir, sagt unser Briefträger morgens, als er die Kästen bei uns im Vorderhaus abklappert. Ich frage ihn, seit wann ihm das aufgefallen sei. »Bücher hast ja immer schon bestellt. Aber jetzt kommen immer diese handgeschriebenen Briefe.« Gutes Zeichen, wenn’s sogar dem Briefträger auffällt.
    Ich frage ihn, ob er generell das Gefühl habe, dass die Leute weniger schreiben als früher. »Ja, logisch. Aber momentan wird’s wieder mehr.« Oh, tatsächlich? Eine Renaissance der Briefkultur? »Geh, Schmarrn, Briefkultur. Mehr Werbung.«
    »Ach so, aber die handgeschriebenen Briefe werden weniger?«
    »Ja natürlich, seit Jahren schon.«
    »Ist doch praktisch, weniger Arbeit.«
    »Schön wär’s, die haben die Bezirke erweitert. Und die stehen uns mit der Stoppuhr im Nacken. Ich dürfte hier gar nicht mit dir reden.«
    11. MAI
    Am Abend des 23. Juli 1846 spazierte Henry Thoreau von Walden aus nach Concord, um bei seinem Schuster einen reparierten Schuh abzuholen. Dabei lief er dem Dorfpolizisten Sam Staples über den Weg, der ihn auf seine ausstehenden Steuern ansprach. Staples scheint das Ganze peinlich gewesen zu sein, er bot ihm an, den fehlenden Betrag für ihn auszulegen oder sich bei den Behörden dafür stark zu machen, dass Thoreau weniger Steuern zahlen müsse, wenn er das wünsche. Thoreau lehnte dankend ab und erklärte, er habe die Steuer aus Prinzip nicht gezahlt und werde das deshalb auch jetzt nicht nachholen. Als Staples ihn daraufhin konsterniert oder unsicher fragte, was er denn jetzt tun solle, und Thoreau sagte, er könne zum Beispiel seinen Job an den Nagel hängen, wurde der gutmütige Polizist doch sauer. »Henry, wenn du nicht zahlst, muss ich dich irgendwann einsperren.« »Wann immer es dir passt, Sam«, soll Thoreau geantwortet haben, woraufhin Staples ihn ins Bezirksgefängnis brachte.
    Thoreau war selbst zu aufgeregt, als dass er hätte schlafen können, und stand lange am Fenster. Einer der Gefangenen rief immer wieder: »Was ist denn das Leben? Soll’s das hier sein?« in die Nacht hinaus. Irgendwann wurde es Thoreau zu blöd, und er rief von seinem Fenster aus: »Was soll’s denn sonst sein?« Der andere schien darauf keine Antwort zu haben, jedenfalls verstummte er.
    Währenddessen ging die Nachricht von Thoreaus Verhaftung wie ein Lauffeuer durch Concord, seine Familie war schockiert, was für eine Schande. Eine resolute Tante ging noch am selben Abend zu Staples nach Hause und brachte ihm den fehlenden Betrag. Als Staples am kommenden Morgen Thoreau entließ, war der außer sich. Sinn und Zweck seiner Aktion war der Gefängnisaufenthalt gewesen, er wollte damit seinem Protest gegen die Sklaverei Ausdruck verleihen und auf die Sache der Abolitionisten aufmerksam machen, jetzt aber stand Staples in seiner Zelle und schickte ihn zurück in die Freiheit. Als Thoreau sich mit den Worten weigerte, er habe das Recht zu bleiben, schließlich habe er die Steuern nicht selbst gezahlt, sagte Staples: »Wenn du jetzt nicht verschwindest, schmeiß ich dich raus.« Da ging Thoreau, holte beim Schuster seinen Schuh ab und pflückte eine halbe Stunde später in der Nähe des Walden Pond Blaubeeren, auf einem Hügel, »von dem aus«, wie er selbst
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