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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz
Autoren: Alex Rühle
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an, als beugten sich immer ein unsichtbarer Deutschlehrer und ein strenger Notar über meine Schulter.«
    23. APRIL
    Der Psychologe, der mich vor Weihnachten besucht hat, um mir sein Buch vorbeizubringen, ruft an, um mir seine Enttäuschung mitzuteilen. Ich hätte ihm doch damals gesagt, ich wolle während meines Experiments die Oberflächlichkeit der Internetkommunikation eintauschen gegen etwas anderes, Tieferes. Er habe mir einen Brief geschrieben, ich hätte aber nicht mal ein Karte zurückgeschrieben. Stimmt, habe ich nicht. Ich schäme mich. Aber von Oberflächlichkeit der Internetkommunikation habe ich nie gesprochen. Ich habe großartige Mail-Freundschaften. Auf die freu ich mich auch wieder. Ich freu mich eh, dass ich in sechs Wochen wieder rein kann. Ja, darauf freu ich mich. Trotz all meiner Suchtängste. Allein schon, um mal wieder dieses Vimeo-video anzuschauen, auf dem zwei durchgeknallte Skateboarder gefilmt haben, wie sie eine steile Straße in Kalifornien runterrasen, sechs Minuten lang, der Wahnsinn, da bläst einen aus dem Bildschirm raus der Fahrtwind an.
    24. APRIL
    Die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel hat vor drei Jahren ein Buch veröffentlicht, das im Titel recht vollmundig »Wege aus der Kommunikationsfalle« und darüber hinaus auch noch das »Glück der Unerreichbarkeit« versprach. Drei Jahre später schreibt sie nun ein Buch über ihre Burn-out-Erfahrung. Schon die Abfolge dieser beiden Bücher zeigt: Am Netz allein kann’s kaum liegen. Es scheint ihr nicht die Bohne gelungen zu sein, die Ratschläge aus ihrem ersten Buch in ihr eigenes Leben zu integrieren. Beeindruckend an Meckels »Brief an mein Leben« ist die Szene des Zusammenbruchs, die zeigt, dass sich manche Abläufe bei uns digitalen Junkies bis in die tiefste Verhaltens-DNA eingebrannt haben. Selbst wenn nichts mehr geht, Internet geht immer: Meckel hatte sich bereits wochenlang nur noch mühsam durch ihren hochtourigen Alltag geschleppt. Bis Körper und Geist eines Morgens total blockierten. Sie hätte eigentlich dringend für eine Reise packen müssen, stand aber nur noch apathisch vor ihren offenen Koffern. Ein grauenhaftes Gefühl der Lähmung muss in ihr hochgekrochen sein. Da setzte sie sich in einer absurden Übersprungshandlung an den Rechner und – checkte Mails. Das ganze System war bereits kollabiert. Nur zwei Sachen funktionierten noch: Atmen und Mailbox-öffnen. Als sie dann sah, dass sie 50 ungelesene Mails bekommen hatte, brach sie vollends zusammen und kam in die Klinik.
    Apropos, was sagt eigentlich der »Pschyrembel« zu meiner Abhängigkeit? Wo haben wir denn die Sucht – Sodbrennen, Subduralhämatom, Syphilis, Succus Liquiritiae, na wer sagt’s denn: »Sucht – a) körperlich ...« – ne, so schlimm war’s ja nun wirklich nicht –, » ... b) psychisch.« Okay. Symptome, Symptome, Symptome, ah hier: »gekennzeichnet durch starkes, gelegentlich übermächtiges oder zwanghaft auftretendes Verlangen, eine Substanz zu konsumieren, um sich positive, Empfindungen zu verschaffen oder unangenehme zu vermeiden; verminderte Kontrollfähigkeit über Beginn, Beendigung und Menge des Substanzgebrauchs einschließlich erfolgloser Versuche, diesen zu verringern; Einengung und Anpassung der Alltagsaktivitäten auf die Möglichkeit oder Gelegenheit zum Substanzkonsum; Vernachlässigung wichtiger sozialer oder beruflicher Interessen; fortgesetzter Substanzgebrauch trotz Wissens über dessen schädliche Folgen«.
    Beeindruckend. Nach dieser Definition war ich tatsächlich süchtig: das starke, zwanghaft auftretende Verlangen, ins Netz zu gehen, die verminderte Kontrollfähigkeit über Beginn, Beendigung und Menge des Gebrauchs, die erfolglosen Abstinenzversuche und das fortgesetzte Surfen trotz Wissens darum, dass es bescheuert ist – trifft alles zu. Fehlt eigentlich nur der Hinweis darauf, dass man als Süchtiger die Sucht oftmals kleinredet. Hoffentlich lesen diesen Abschnitt viele Lebensgefährten von Internetgestörten. Auf dass sie diesen Passus ihren Partnern laut und deutlich vortragen mögen!
    Und was sagt der Pschyrembel über Entwöhnung? »Erfolgt durch Dosisreduzierung oder Abstinenz evtl. erst im Rahmen einer stationären Therapie, dann langfristig ambulant oder in therapeutischen Einrichtungen, möglichst wohnortnah und unter Einbeziehung von Freunden, Angehörigen. Chronisch Suchtkranke benötigen häufig zusätzliche spezielle Übergangseinrichtungen, betreutes Wohnen und geschützte
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