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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz
Autoren: Alex Rühle
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Beschleunigung in den Pariser Passagen Schildkröten spazieren führten.
    31. MAI
    Am 6. September 1847, nach zwei Jahren, zwei Monaten und zwei Tagen, verließ Henry David Thoreau seine Hütte und zog zurück in das Haus der Familie in Concord. In »Walden« schreibt er zwar recht nonchalant und wurstig: »Ich verließ den Wald aus einem ebenso guten Grund, als ich ihn aufgesucht hatte. Vielleicht meinte ich, dass ich noch verschiedene Leben zu leben habe und für diese keine Zeit mehr aufwenden könne.« Aber in seinem Tagebuch und den Briefen klingt er anders. Mehrfach betont er, dass Walden eine der wichtigsten Erfahrungen seines Lebens gewesen sei. Einmal schreibt er wehmütig, fast ratlos: »Ich glaube nicht, dass ich sagen könnte, warum ich die Wälder wieder verlassen habe. Ich habe mich oft dorthin zurückgesehnt (...) Wer weiß, wenn ich dort etwas länger gelebt hätte, wäre ich für immer geblieben.«
    Und ich? Würde ich gerne für immer bleiben?
    Heute Nacht werden auf meinem SZ-Rechner wieder Mozilla Firefox, Internet Explorer, Skype und Lotus Notes installiert. Morgen früh will ich dann in der SZ vor ein paar Zeugen in meinen digitalen Rotlichtbezirk schauen, die vielen tausend ungelesenen Mails. Soll ich die alle auf einmal löschen? Und soll ich ansonsten einfach da weitermachen, wo ich am 30. November aufgehört habe? Was tun gegen die World-of-Workcraft-Sucht, zu der Fronnaturen wie ich neigen?
    Den Blackberry hole ich mir gar nicht erst zurück. Ich tausche ihn ein gegen ein altes Handy. Habe mich schon erkundigt bei den Herren von der IT. Die waren ein wenig verwundert und sagten, es gebe eigentlich gar keine normalen Handys mehr, aber sie besorgen mir jetzt eines. Zu Hause installiere ich mir fürs Erste auch kein Netz mehr. Ich bin tagsüber nonstop online, das reicht. Ich traue mir nicht, und es wäre mir zu peinlich, ein Tagebuch über solch ein Lebensexperiment zu schreiben und drei Jahre später ein Buch über mein Burn-out nachlegen zu müssen. B. hat einen tollen schnellen Rechner, wenn’s sein muss, kann ich da ja ab und zu rein. (»Nee«, sagt sie, »du hast da was nicht verstanden, der ist nicht toll und schnell, sondern hübsch und grün.«) Wenn unser Sohn in ein paar Jahren das Lokalisten-Alter erreicht hat, wird das Netz ohnehin mit Macht ins Haus zurückdrängen, und da ist es wahrscheinlich nicht verkehrt, wenn ich selbst nicht als lebenszerfranster Internet-Junkie in die ersten Streitigkeiten gehe.
    In der Arbeit aber freue ich mich ganz und gar darauf, wieder ein normaler Mensch zu sein. Alle Rund-Mails zu kriegen. Selber Mails zu schreiben. Durch den ganzen Reichtum zu surfen, den das Netz bereithält. Mit meiner schlagfertigen Freundin Sonja zu skypen.
    Und sonst? Was sehe ich, wenn ich von meinem kleinen Halbjahreshügel zurückblicke auf diese analogen 182 Tage? Was ist im Gedächtnis geblieben? Die Verwunderung über das knorpelig kalte Bein der Ente. Die ruhigen Momente, wenn es sich so anfühlte, als würde ich eine Schale klaren Wassers durch die Gegend tragen: ein paarmal auf dem Fahrrad, ein paarmal zu Fuß. »Hey Jude« zu singen, mit Spülbürste als Mikro, bis der Bürstenkopf durch die Küche flog und klirrend hinter den Saftflaschen landete. Der verschnupfte Tag im Zendo. Der gellende Schrei des kleinen Jungen, der überfahren wurde. Die Bedeutungsspritze meiner Tochter, die übrigens nie mehr aufgetaucht ist.
    Und wenn ich mich auf meinem Hügel umdrehe und in Richtung Zukunft schaue? Habe ich dann irgendwelche lebensbefördernden Ratschläge? Klar. Aber die haben nur vermittelt mit dem Netz zu tun. Offenbleiben, trotz der ganzen Riesenscheiße um einen rum. Wenn das mal nicht geht, Bach hören. Oder die Sängerin Gustav. Oder – ach hört doch alle, was ihr wollt! Lesen. Arbeiten. Radfahren, die Isar hoch, bis man nicht mehr kann. Alle Autos verkaufen! Flugzeuge runterholen! Schafft einen, viele, tausend EyjafJallajökülls. Und dann nehmt Euch Zeit füreinander, auf den Flughäfen und verwaisten, pusteblumensamenübersäten Landebahnen. Die geht nämlich so grausam schnell rum. Schade, dass das halbe Jahr schon zu Ende ist. Amen.

Die Tage danach
    Leider geht der digitale Alltag sofort nach dem Einloggen über den Probanden und sein Experiment weg wie der Ozean über eine Sandburg. Am Ende ist er recht ratlos, wie es weitergehen soll mit ihm und dem Internet, und bekommt einen beängstigenden Fingerzeig.
    7. JUNI
    In meinem Account haben 5644 ungelesene
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