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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz
Autoren: Alex Rühle
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bin ich gar nicht verhaltensauffällig, sondern nur so kommunikativ, wie der Mensch von Haus aus wäre, säße er nicht festgeschraubt am Bildschirm? Der große alte Joachim Kaiser kommt ja noch oft in die Redaktion gefahren. Da sinniert er dann zuweilen darüber, wie radikal sich doch unser Arbeiten geändert habe. Wie bizarr er das finde, dass wir alle stumm und einsam in unseren kleinen Kubikeln sitzen und fortwährend in den Rechner starren. Zu seiner Zeit habe man Themen im Dialog entwickelt, sei stundenlang gemeinsam essen gegangen, habe leidenschaftlich diskutiert. Jetzt sei hier alles immer so still.
    5. DEZEMBER
    Vor Beginn des Experiments habe ich mich sehr auf die Wiederbelebung meines Briefkastens gefreut. Mit dem Briefkasten ist es ja mittlerweile wie mit der Bundesrepublik: Innerhalb weniger Jahre ist er zur strukturschwachen Gegend verkommen. Noch 1993 schrieb Max Goldt in einer seiner Kolumnen: »Die Post ist eine heilige Institution, und das Bekommen von Post hat am späten Vormittag die gleiche tröstende Funktion, die der mäßige Genuss leicht alkoholischer Getränke am Abend und der Schlaf in Nacht- und Morgenstunden ausüben. Die öffentliche Verehrung, die Sportlern oder Schönheiten der Unterhaltungsindustrie zuteil wird, sollte man lieber den Postboten widmen.« Goldt liebte seinen Postboten so, weil der ihm tagaus, tagein persönliche Briefe brachte. Der postmoderne Bote aber trägt nur computergeschrierte Behördenschreiben und frankierte Reklame aus. Niemand schreibt mehr. Niemand. Schlimmer als niemand ist nur der Journalistenverband, weil der einmal im Monat eine dröge Zeitschrift schickt, in der es um die Krise des Journalismus geht. Meist aber ist der Briefkasten so leer wie Ostdeutschland in seinen zugigsten Ecken: Hie und da Werbung für die asiatische Glutamatmafia, manchmal das Programm der Berliner Volksbühne, obwohl ich das schon mehrfach abbestellt habe. Ansonsten: Schicht im Schacht. Jetzt aber, so dachte ich vergangene Woche, während ich feierlich ein paar Postwurfsendungen entsorgte, jetzt bricht eine neue Zeit an. Dieser Kasten wird zum Zentrum der Diskurse werden, dicke Briefbündel werden daraus hervorquellen, innige Geständnisse, in aufgewühltem Seelenzustand mit Füller auf Büttenpapier geworfen, hitzige intellektuelle Diskussionen, die sich aufgrund der anspruchsvollen dialektischen Argumentationen über Monate hinziehen werden ...
    Von wegen. In diesem Kasten bleibt nur, der durch ihn ging, der Wind. – Fabelhaft, das habe ich gerade eben live in meinem Gehirn gegoogelt! Mein analoges Neuro-Enhancement scheint kolossale erste Früchte zu tragen! Bertolt Brecht. Duineser Elegien. Ich Teufelsbraten, kaum vergehen ein paar Tage, schon habe ich mir mein Gedächtnis zurückerobert. Wobei, Moment, die Duineser Elegien sind gar nicht von Brecht, sondern von dem Typen, von dem auch das mit dem Panther in der Bank war, Rilke, genau, der doch in einem seiner Gedichte hoch und heilig versprach, er werde wachen, lesen, lange Briefe schreiben im Herbst. Und? Was ist? Herbst vorbei, kein einziger Brief.
    6. DEZEMBER
    Ich rufe abends die Auskunft an, um die Adresse des Klett-Cotta-Verlags zu erfragen und führe mit der Mitarbeiterin ein erfrischend absurdes Gespräch. Die Frau sagt, sie finde nur einen Klett-Verlag, aber keinen Cotta.
    »Sie meinen doch Cotter mit er wie sie?«
    »Wieso sie? In sie ist doch gar kein r?«
    »Nein, er. Er. Sie. Es. Cott-ER.«
    »Ah. Ne, mit a.«
    »Ah.«
    »Genau, mit a.«
    »Nein, ich meinte ah wie aha.«
    »Ah.«
    »Genau. Den Cotta mit a gibt’s nicht.«
    Mann, Leute, zehn Sekunden googeln und ich hätte die Anschrift. Der Klett-Cotta-Verlag ist doch keine kasachische Briefkastenfirma, das muss doch zu finden sein. Ich nuschle irgendeine Dankesformel, lege auf und versuche es noch mal. Auch diese Mitarbeiterin ist freundlich und bemüht, findet aber den Verlag genauso wenig. Schließlich fragt sie, ob sie mich durchstellen solle zu den Kollegen von der Serviceabteilung. Na, warum nicht. Dort findet eine Frau die Adresse innerhalb weniger Sekunden. Ich frage vor dem Auflegen, worin denn der zusätzliche Service der Serviceabteilung bestehe. »Wir benutzen Google.«
    Ich brauchte die Adresse, um meinem Verleger Tom Kraushaar eine Postkarte zu schicken, die einen indischen Beamten zeigt: Das Büro ein winziger dunkler Holzkasten mit kahlen Wänden, auf dem leeren Schreibtisch nur ein uraltes Bakelittelefon, das nicht so aussieht, als ob da oft
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