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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz
Autoren: Alex Rühle
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Roberto Benigni, Tom Waits und John Lurie in einer Gefängniszelle sitzen. Benigni, der in dem Film nicht besonders gut Englisch kann, malt mit dünner Kreide ein Fenster an die graue Zellenwand und fragt: »Zack, Jack, is it I look at the window or I look out the window?« Lurie knurrt: »In this case, I’m afraid, it’s I look at the window.«
    Jetzt, da ich nur noch auf Windows schauen kann, kommt es mir so vor, als habe bis gestern direkt hinter der Benutzeroberfläche eine cinemascopisch weite Welt gelegen, in die man jederzeit hineinspazieren konnte, um Kraft zu tanken, durchzuatmen, sich darin zu verlieren, die endlosen Great Plains des Netzes. Nun hingegen ist da nur ein Blatt, das mich anstrahlt, und vor dessen weißer Leere ich mich nirgends hinflüchten kann.
    2. DEZEMBER
    Viele Kollegen machen Höhlenmenschenwitze über mich. Mit dem Funkeln des pointengewissen Witzbolds in den Augen, fragt jeder beinhart fast dasselbe. Ob ich denn meine Wohnung noch heize. Ob ich ab sofort meine Mails mit dem Toaster schicke. Ob ich noch mit der elektronischen Karte in der Kantine bezahle oder hinterm Hochhaus Gemüse anbaue. Ob ich mich noch rasiere. Ob ich noch Aufzug fahre oder in Zukunft immer zu Fuß in den 19. Stock hochlaufe. Und ob ich meine Texte jetzt handschriftlich verfasse.
    Leute, ich lebe weiterhin in einer beheizten Wohnung, habe ein Telefon, einen Kühlschrank und einen Fernseher, den ich freilich seit einigen Jahren kaum noch benutze. Aber jetzt, ohne Netz, kann ich die Kiste ja mal wieder anmachen und kucken, was ARD und ZDF so treiben mit meinen GEZ-Gebühren. Mir schwant Übles. Ich habe auch meinen Apple noch, der wird sich aber während der nächsten Monate mit mir entsetzlich langweilen, nur noch Textverarbeitungsmaschine zu sein, dürfte für einen multitaskverwöhnten Rechner Exerzitien der Ödnis bedeuten.
    Ich mache all das nicht, weil ich das Internet doof finde. Im Gegenteil, ich verbringe den Großteil meiner wachen Zeit im Netz, weil ich es großartig finde, ein riesiges Versprechen. Allein schon die Homepage des »Guardian« kommt mir vor wie der Eingang in ein Bergwerk voller Goldadern: Egal in welchen Text man klickt, dahinter tun sich unendliche Verbindungsstollen voller glitzernder Nuggets auf. Ich prangere die Monsterkrake Google natürlich aufs schärfste dafür an, eine solche Monsterkrake zu sein, noch dazu so eine verlogene, »Don’t be evil« ist nun wirklich der ekligste aller Firmenslogans, aber bin ihr gleichzeitig dankbar dafür, dass sie die ganze Welt für mich ordnet. Weihnachten ohne Amazon-Bestellungen wird sicher mühsam. Und mir graut schon vor analogen Recherchen aller Art. Kurzum: Das Netz sei mit Geschmeiden behängt und mit Ölen gesalbt, es möge ihm wohlergehen immerdar, der Herr lasse leuchten Sein Angesicht über ihm und gebe ihm Frieden.
    Ich habe aber das Gefühl, dass ich mir darin selbst abhanden komme. Dass es mich schluckt. Mein Kopf glich abends, wenn ich vom Büro heimradelte, oft einem neuronalen Flipperautomaten, dessen Drähte nach der Arbeit noch stundenlang im Dunkeln nachglühten. Im Nachhinein kamen mir solche Tage vor, als hätte ich in der staubtrockenen Luft eines Kopierladens fortwährend nur leere Blätter in die Luft geworfen, bleiche, zerfaserte Zeit. Als würde da einer hinter meinem Rücken, während ich in den Bildschirm starre, mit dem Tintentod über den Tag drübergehen: Kaum vergangen, ist alles verblasst.
    Vladimir Nabokov schreibt, Erinnerung sei »der lange Sonnenuntergangsschatten der Wahrheit«. Was für ein wunderbares Bild. Das aber von sehr ruhigen, natürlichen Zyklen ausgeht, einem Baum in der Sonne, dessen Schatten am Ende eines langen Sommertages unmerklich länger wird, bis sich irgendwann die Nacht des Vergessens wie ein Tuch über die Welt legt. Ich konnte mich nach einem Arbeitstag oftmals an nichts erinnern. Ja, ich konnte mich manchmal nicht mal mehr während des Tages erinnern, was ich zwei Minuten vorher getan hatte. Als flösse die Zeit direkt hinter mir in ein riesiges schwarzes Loch ab. Andererseits frage ich mich, ob das früher groß anders war. Meinem Tagebuch zufolge nicht. 1996, während der Magisterzeit, habe ich mal geschrieben: »Oft kommt mir die Gegenwart vor, als stünde ich irgendwo im unermesslichen Watt und hielte eine Schnur in der Hand, die direkt hinter und vor mir spurlos im Matsch verschwindet. Wo kommt die Schnur nur her? Wo geht sie hin? Und was mache ich überhaupt hier
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