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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz
Autoren: Alex Rühle
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abzulaufen. Man kann anhand des Buches und dieses Autors viel über die verfahrene Situation zwischen Israelis und Palästinensern erzählen, aber wie soll man ohne Internet sichergehen, wie der Name dieser Selbstmordattentäterin geschrieben wird, deren Bild in Bethlehem überall an den Wänden hängt, ähnlich einem Popstar?
    Ich muss mich nach einer solchen Reportagereise auf meine Aufzeichnungen verlassen. Diesmal müsste das eigentlich besonders gut klappen: Ich wusste vorher um das Experiment und habe deshalb bei jedem Namen drei- bis viermal nachgefragt und später noch zweimal nachgelesen, ob ich das jetzt in meinem Notizblock auch ganz bestimmt richtig geschrieben habe. Matt Rees muss schon einen psychopathologischen Orthographiezwang bei mir vermutet haben, regelmäßig blieb ich irgendwo im palästinensischen Novemberniesel stehen und fragte:
    »Okay, wait, wait, his name is W-A-L-I, is that correct?«
    »Yes.«
    »W-A-L-I? Like this? Are you sure?«
    »Well, as I told you before, it’s quite an easy name.«
    Das Interessante ist nun, dass ich, obwohl ich jeden Namen, jedes Datum, jede Zahl vorher mehrfach gegengecheckt habe, mich jetzt unvollständig fühle. Fast als hätte ich Phantomschmerzen.
    Auch weiß ich nicht mehr genau, wie der letzte Satz aus Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung« wörtlich heißt. Ich gehe zu den Kollegen Thomas Steinfeld, Johan Schloemann und Christopher Schmidt und frage sie, ob sie sich an den korrekten Wortlaut erinnern. Alle drei sagen spontan, kannste doch googeln und lachen dann, als ihnen einfällt, dass ich genau das nicht mehr kann. Die drei haben eine beeindruckend tiefgestaffelte Allgemeinbildung, aber ich musste in dieser dreifachen Wiederholung des Google-Automatismus an Kevin Kelly denken, den Herausgeber des Computermagazins »Wired«, der einen Text darüber schrieb, wie wir unser Gedächtnis ans Netz outsourcen: »Je mehr wir dem Megacomputer beibringen, desto mehr übernimmt er die Verantwortung für unser Wissen. Er wird zu unserem Gedächtnis.« Am Ende schreibe ich Blochs schönen Satz in indirekter Rede, Heimat sei das, was allen in die Kindheit scheint, aber worin noch niemand war, und denke seufzend: Internet ist das, was mir bislang in mein Leben schien und worin ich nicht mehr bin.
    Abraham ruft an, er hat den Schützengrabenphilosophen gegoogelt. Franz Rosenzweig war das, und das Buch, das er sich auf Feldpostkarten portionsweise aus dem Ersten Weltkrieg nach Hause geschickt hat, heißt »Stern der Erlösung«. Um was es darin geht, weiß Abraham auch nicht. »Aber der hat in der Zeit nicht nur das Buch geschrieben, sondern auch noch per Brief in einer Menage à trois um eine Frau gerungen. Das allein würde mich schon komplett lähmen. Dann noch Erster Weltkrieg. Und der schreibt dieses philosophische Schlüsselwerk.« Ich muss glücklicherweise nicht mehr um meine Frau ringen. Hoffe ich zumindest. Ich werde sie mal fragen heute Abend. Jetzt habe ich ja wieder Zeit für analoge Gespräche. Ich muss auch kein philosophisches Schlüsselwerk schreiben. Aber »Stern der Erlösung« wäre ein schöner Titel für ein Entzugstagebuch.
    4. DEZEMBER
    Keine Frage: Ich bin verhaltensauffällig. Es gibt ja in jedem Büro, in jeder Abteilung diese Kollegen, die sich selbst für hochgradig gesellig halten, was bedeutet, dass sie den meisten auf die Nerven gehen, weil ihre Besuche eher Heimsuchungen gleichen: Sind sie erst mal über die Schwelle des Büros getreten und haben es sich gemütlich gemacht in einem Besuchsstuhl und ihrem eigenen Gerede, bekommt man sie nicht mehr aus dem Zimmer. Ich behelfe mir in solchen Situationen oftmals damit, dass ich irgendwann aufstehe, mein Glas nehme und selbst aus dem Zimmer gehe mit dem Hinweis auf meinen großen Durst.
    Kaum aber ist der vierte Tage ohne Netz angebrochen, stehe ich eine halbe Stunde bei unserem Volontär im Büro und frage ihn über seine Schwester aus, von der ich kurz zuvor nicht mal gewusst hatte, dass es sie gibt, »ach, im diplomatischen Dienst ist die, interessant, wo will die denn da hin?« Im Anschluss daran besuche ich meinen Zimmernachbarn, den Filmredakteur Tobias Kniebe, und rede so lange hochtouriges Zeug daher, bis er irgendwann leise sagt, ich geh mir mal Wasser holen. Die Verblüffung darüber, dass Tobias sich anscheinend in solchen Situationen mit demselben Trick behilft wie ich, kann das Entsetzen darüber, dass ich selber soeben Hauptfigur einer solchen Situation war, nicht lindern.
    Oder
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