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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz
Autoren: Alex Rühle
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und fragen, ob sie ihre Adventskalender aufmachen dürfen. Heute ist erster Dezember, lange ersehnt, endlich das erste Türchen öffnen, sehr verständlich, aber soll ich jetzt um drei aufstehen, um in Ruhe schreiben zu können? Meine Tochter S. sagt, sie finde das »voll ungerecht, wir dürfen nie fernsehen und du kuckst sogar nachts immer in deinen blöden Computer rein«. Ihr Bruder N. steht in seinem blauen Pyjama vor den Büchern, die ich gestern neben dem Schreibtisch aufgebaut habe – eineinhalb Meter Sekundärliteratur, daneben zwei Ordner mit Aufsätzen, Zeitungsartikeln, Ausdrucken zu lauter Themen rund ums Netz -, und deklamiert wie ein Jahrmarktsschreier wild gestikulierend die für ihn kryptischen Titel: »A Better Pencil, meine Damunherrn, A Better Pencil! Nur heute! Kommen Sie!« Er spricht den englischen Bleistift »Penkill« aus, Stiftkiller. »Distracted« klingt bei ihm wie eine mittelalterliche Figur, der böse Zauberer Distraktet, der den Menschen eines Tages hinterrücks die Aufmerksamkeit geraubt hat. S. will die Gunst des Moments nutzen und mit mir heimliche Nachverhandlungen beginnen, weil doch in ihrem Kalender keine Schokolade sei, ob sie da mehr vom Hexenhäuschen kriegen könne. N. verstummt sofort und lauscht, S. sagt, es sei alles so ungerecht, und schmeißt sich weinend auf den Boden. N. sagt empört, nein, überhaupt nicht ungerecht, weil nämlich im letzten Jahr war’s andersrum und so weiter, hin und her. Irgendwann wird’s mir zu viel, und ich sage, sie sollen mich in Ruhe lassen. Schließlich muss ich mich hier von heute an meinem analogen Experiment widmen. Die beiden schauen mich staunend an und gehen dann, geeint in empörtem Schweigen, aus dem Zimmer. Kinder sind das Analogste, was es gibt.
    Auf dem Weg zur Arbeit halte ich an der kleinen Stadtsparkassenfiliale an der Berg-am-Laim-Straße. Da ich ja kein Internetbanking mehr machen kann und dazu neige, Zettel aller Art zu verlieren, will ich die 15 Euro Strafe gleich einzahlen. Hinter mir in der Schlange summt eine Frau mit gebräuntem Teint etwas von den Bee Gees, es ist so ein ruhiges, selbstzufriedenes Summen, bei dem es mehr darum geht, sich inwendig an das Lied zu erinnern, als es der Außenwelt adäquat vorzusingen. Der Mann, der gerade am Schalter bedient wird, scheint nervös zu sein. Er gräbt beidhändig in seinen Taschen rum, als müsse er tiefe Löcher in sich selber ausheben, und spricht mit dem Schalterbeamten, als sei der ein menschgewordener Putzlumpen. Das Graben in der Hose hört gar nicht auf, eigentlich müsste der das Taschenfutter längst durchgearbeitet haben. Ich muss an dieses Rilke-Gedicht denken mit dem ruhelosen Panther, wie ging das noch, er kreist um eine leere Mitte, Dings, hört auf zu sein. Das Denken in einer morgendlichen Bankschalterschlange gleicht dem diffusen Summen der Frau hinter mir, es ist Denken im Standby-Modus.
    Im selben Moment entdeckt der grabende Mann die summende Frau und ruft quer durch die Schalterhalle: »Ah, da sind Sie ja! Waren Sie im Urlaub?« »Ja«, singsangt die Frau, die schon darauf gewartet zu haben scheint, »im Tessin, sieht man das?« Der Mann hat sie anscheinend nicht verstanden und wiederholt: »Waren Sie im Urlaub?« »Ja!«, lacht sie und fügt halb ironisch, halb kokett an: »Haben Sie mich etwa vermisst?« »Nein«, sagt der Mann und gräbt nun wieder seine Hose um. »Sie haben auf meine Mails nicht geantwortet.« Die Frau, auf deren Gesicht gerade noch dieses stille Urlaubsleuchten lag, erschrickt, aus dem tessingebräunten Antlitz wird in Sekundenschnelle eine besorgte Büromiene: »Ach du meine Güte, was Wichtiges?«
    Als ich im Büro den Rechner starte, klaffen auf dem Desktop drei Löcher, da, wo die Icons für Firefox, Internet Explorer und Skype standen, ist nichts mehr. Ich rufe die nette Dame von der IT-Abteilung noch mal an, um mich zu bedanken. »Da brauchen Sie sich nicht zu bedanken«, sagt sie, »überlegen Sie lieber, was Sie da tun.« Sie sagt das im Ton einer Ärztin, die einen Diabetiker beim Zuckerwattekauf erwischt hat. Dann wechselt sie in eine versöhnlichere Tonlage und fragt, ob ich denn Abschiedsgeschenke von meinen Kollegen bekommen hätte. »Nein, Abschied nehm ich ja nicht, ich bin weiterhin hier.« »Naja«, sagt sie, nun wieder skeptisch, so als bringe mein Versuch unweigerlich eine verminderte Existenzdichte mit sich. »Naja. Wenn Sie meinen. Viel Glück.«
    In »Down by Law« von Jim Jarmusch gibt es diese Szene, in der
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