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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz
Autoren: Alex Rühle
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jemand anrufen würde. Ich wollte Kraushaar die Karte schicken, weil ich mich genauso fühle. Allein. Nutzlos. Isoliert. Und so dermaßen analog wie in diesem Dritte-Welt-Verschlag, der eher einer mönchischen Einzelzelle gleicht als einem Büro. Kein Schwein mailt mich an. Okay, daran bin ich selber schuld. Aber auch das Fax steht still und schweiget. Briefkasten ja sowieso. Das hat was von Isolationshaft. Wo sind meine Freunde denn nur? Im Netz? Alle zusammen?
    In der fünften Klasse war ich mal zerstritten mit meinem Banknachbarn Jens. Der hat dann seine Geburtstagsparty umfunktioniert in eine Alexausschmierparty: Er hat die ganze Klasse eingeladen, nur mich nicht. So habe ich mir das jedenfalls damals eingebildet. An dem Nachmittag habe ich bei uns im Garten gespielt, mit Pfeil und Bogen auf einen vermoosten Torfsack geschossen, und sagte mir, ist doch eigentlich auch super. So einsam habe ich mich in meinem ganzen Leben nicht wieder gefühlt. Bis heute.
    Es ist doch beeindruckend schwer zu ertragen, keine Post zu bekommen, wenn man 60 bis 80 Mails am Tag gewohnt ist. 60 mal am Tag wichtig sein. 60 mal warmes Fläschchen fürs Ego, eine Nuckelflasche voll mit süßem Brei, das stille Versprechen, gebraucht, geliebt, angesprochen, umsorgt zu werden. Und ich war das Baby, das keinen Aufschub duldet.
    Ich hab den Blackberry meist in meiner Hemdtasche getragen, das heißt der Vibrationsalarm ging mir direkt ins Herz. Jetzt klafft da ein riesiges Loch, das freilich keiner sehen kann. Aber ich kann es spüren. Ich fasse mir im Gehen auch oft an die Hemd- oder Hosentasche, halb in der Erwartung, das kleine schlanke Kästchen zu spüren, halb als Ersatzhandlung. Aber da ist nichts mehr. Ich bin alleine. Andererseits: Was hatte ich erwartet? Dass im Moment des Mail-Ausschaltens in mir das Gefühl aufblüht, in einem dieser Konstantin-Wecker-Lieder zu leben, in denen junge Hunde durch C-Dur-Akkorde und den Englischen Garten tollen?
    7. DEZEMBER
    Morgens, auf dem Weg zur Arbeit, radle ich bei einem Suchthilfezentrum in der Maistraße vorbei. Ein Typ mit langen schwarzen Haaren steht im ersten Stock am Fenster und scheint gerade akut am Entzug zu leiden: Er knautscht sein Gesicht ans gekippte Fenster und schreit zwei Freunden, die unten auf dem Bürgersteig stehen, zu: »Ey, is das krass, Leute, ist das krass, ich glaub, ich pack’s nicht«. Hallo Kollege!
    Ich hätte nie gedacht, dass ich auf meine alten Tage noch mal abhängig werde. Ich trinke in Maßen, Fernsehen im Sinne des Glotzens und Zappens hat mich immer eher gelangweilt, ich hab noch nie geraucht, und die zwei Male, die ich Marihuana in Joghurt beziehungsweise versalzenen französischen Keksen gegessen habe, ist außer Sodbrennen rein gar nichts passiert. Kurzum, ich dachte, jetzt bin ich 40, keine besonders großartige Existenz, aber immerhin versacke ich nicht in einer lebenszerrüttenden Sucht.
    Es ging ganz schleichend, in Schüben. Als hätte der Dealer mir über Jahre immer stärkeren Stoff angedreht. Nein, das ist falsch: Als hätte ich ihn immer wieder um härteres Zeug angebettelt, schließlich habe ich jeweils selber für die Verschärfung gesorgt.
    Vielleicht bin ich charakterlich und beruflich besonders prädisponiert für ausschweifendes Netzverhalten: Ich bin von Natur aus ziemlich unruhig. Außerdem bin ich als Redakteur im Feuilleton für die freien Themen zuständig, also für alles und nichts. Während die Kollegen sich, wenn ihnen mal ausnahmsweise nichts genuin Geniales einfällt, immer noch an ihren Theaterspielplänen, Tourneedaten, Neuerscheinungen und Gedenk- oder Geburtstagen entlanghangeln können, muss ich mich permanent selbst erfinden, weshalb ich täglich nervös und hungrig im Netz umhergestreift bin, ein digitaler Jäger und Sammler.
    Den ersten exponentiell suchtverstärkenden Schritt habe ich 2005 unternommen. Damals sind wir als Familie für ein paar Monate nach Amerika gegangen. Die ZEIT-Stiftung vergibt dieses fabelhafte Stipendium, man darf für ein Semester nach Harvard, um dort in Ruhe die eigenen Wissenssilos aufzufüllen. Bevor man losfährt, muss die eigene Chefredaktion der Stiftung schriftlich versprechen, dass sie einen in diesen Monaten in Ruhe lässt, damit man zweckfrei Bücher lesen kann, kluge Professoren hört oder sich sonstwie rundum bildet. Ausgerechnet vor dieser Reise, die ja einzig dazu dienen sollte, dass ich mich mal innerlich durchlüfte und frei mache von meinem nervös getakteten Zeitungsalltag, bin
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