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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz
Autoren: Alex Rühle
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unbedingt. Keine der Mails musste überhaupt beantwortet werden. Ich hab’s trotzdem getan.
    Sollte Freuds These stimmen, dass die kulturelle Leistung des Menschen der Aufschub ist, die Sublimierung, die Fähigkeit, Spannung auszuhalten und Befriedigung auf später zu verschieben, dann bin ich mittlerweile ein komplett unkultivierter Höhlenmensch. Wenn eine neue Mail kam, ertrug ich null Aufschub. Egal ob ich auf dem Fahrrad unterwegs war, mit Freunden beim Essen saß oder mit meiner Familie am Wochenende auf der Flaucherwiese lag: Wenn ich diese doppelte sanfte Vibration an meinem Herzen spürte, war es mir fast unmöglich nicht sofort nachzuschauen. Dem Impuls zu widerstehen war qualvoll wie ein Mückenstich, an dem man nicht kratzen darf. Ich habe es auch immer höchstens so lange ausgehalten wie den Befehl, nicht zu kratzen, zwei Minuten, vielleicht drei. Das führte sogar dazu, dass ich mich in geselliger Runde kurz aufs Klo verabschiedet habe, nur um zu kucken, wer da was geschickt hat. Und dass ich ein paarmal fast Unfälle verursacht hätte, weil ich abrupt auf dem Radweg anhielt. Meist war es natürlich gar nichts Lohnendes, sondern ein Verteiler für ethnologische Migrationsliteratur, Viagra-Spam aus Nigeria, oder das Majolika-Museum Karlsruhe schickte neue Ausstellungshöhepunkte, aber wer weiß, vielleicht ist die nächste ja wieder lecker.
    Vieles daran war natürlich toll. Es machte Spaß, nach einem Wiesnbesuch angezwitschert durchs nächtliche München zu spazieren und mit einem schlagfertigen Freund SMS-Ping-Pong zu spielen; ein Foto vom chaotischen Straßenverkehr in Mumbai, aufgenommen aus einer dieser dreirädrigen, fensterlosen Taxirikschas, an die Kinder zu schicken; oder sich spätabends noch mit einem befreundeten Kollegen über das Blatt von morgen zu verständigen. Ich hatte taube Daumenspitzen vom vielen Simsen und Mailen.
    Im Grunde glich ich den Kleinkindern, mit denen die Münchner Entwicklungspsychologin Doris Bischof-Köhler zusammengearbeitet hat. Um herauszubekommen, inwieweit Kinder schon dazu in der Lage sind, zeitlich zu planen, stellte sie in einem Raum eine Maschine auf, aus der in unregelmäßigen Abständen ein Smartie rollt. Gleichzeitig lief in einer anderen Ecke des Raumes, in die man von der Smartie-Maschine aus nicht sehen konnte, ein Film. Ein Kind, das sein Smartie immer gleich haben wollte, verpasste also den Film, während ein Kind, das sich dafür entschied, den Film anzuschauen, auf die Smarties verzichten musste – es sei denn, es hängte ein kleines Körbchen an das Ausgaberohr der Maschine, das die Smarties auffing. Die meisten Kinder pendelten frustriert zwischen Maschine und Film hin und her. Sie merkten zwar, dass sie so sowohl ein paar Süßigkeiten als auch die Handlung des Films verpassten, änderten aber ihr Verhalten dennoch nicht. Einige waren zwar so gewitzt, die Dose hinzuhängen – sprangen aber trotzdem immer auf, wenn sie das Klacken der herabfallenden Smarties hörten. Nur eine kleine Gruppe war so schlau, dass sie zunächst konzentriert den Film zu Ende schaute und danach erst ihr Körbchen holte. Bischof-Köhler nennt diese Kinder »kompetente Planer«, und ich frage mich seither, ob ich inkompetenter bin als ein paar Vierjährige.
    8. DEZEMBER
    Wer befürchtet, ein einsamer Spinner zu sein, sollte sich einfach nur zu seinem Spinnertum bekennen. Im selben Moment kommen aus allen Richtungen Leute an und erzählen einem von ihrer eigenen Klatsche. Überraschend viele, die von meinem Experiment erfahren, beschreiben ungefragt ihre jeweilige Zwangsmacke: Da ist die Bekannte, die jeden Abend zwei bis vier Stunden online Scrabble spielt. »Aber immer noch besser als meine frühere Farmville-Sucht auf Facebook. Da hab ich mir den Wecker gestellt, um nachts um zwei Auberginen zu ernten. Mit Scrabble trainiere ich wenigstens meinen Grips. Aber ich komm nicht mehr zum Bücherlesen – keine Zeit.« Die Frau arbeitet in einem Verlag. Dann ist da dieser Freund, der seine Nächte in Verbraucherforen verbringt, Testurteile aufsaugt und selber tonnenweise Kommentare produziert zu irgendwelchen Fotoapparaten, Videorekordern, Festplatten. Früher schaute er in diese Foren nur, wenn er sich irgendetwas anschaffen wollte. Mittlerweile hat sich das verselbständigt, er kann eine ganze Nacht lang hochemotional über die Vor- und Nachteile eines Beamers chatten, obwohl er gar keinen braucht. Oder die Frau, die von der Sammelsucht ihres Mannes redet: In früheren
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