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Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Titel: Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)
Autoren: Tom Rob Smith
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wie meine Eltern tat ich, was ich konnte, um aus unserem Zuhause eine Zuflucht vor der Welt zu machen. Mark war zehn Jahre lang mit einer Frau verheiratet gewesen, die Ehe hatte mit einer schmutzigen Scheidung geendet. Seine Exfrau behauptete, er habe ihr die besten Jahre ihres Lebens gestohlen, sie habe ihre Liebe an ihn verschwendet und würde jetzt mit Mitte dreißig keinen richtigen Partner mehr finden. Mark gab ihr recht, und die Schuld belastete ihn sehr. Ich wusste nicht, ob er dieses Gefühl je loswerden konnte. Fotos aus seinen Zwanzigern zeigen ihn voller Energie und Selbstvertrauen, ganz geschniegelt in seinen teuren Anzügen – damals trainierte er noch oft im Fitnessstudio, er hatte breite Schultern und kräftige Arme. Er besuchte Stripclubs und plante hemmungslose Junggesellenabschiede für seine Kollegen. Er lachte laut über Witze und schlug den Leuten kräftig auf die Schulter. Jetzt lachte er nicht mehr so. Während der Scheidung hatten sich seine Eltern auf die Seite seiner Exfrau geschlagen. Vor allem Marks Vater fühlte sich von ihm abgestoßen. Sie redeten nicht mehr miteinander. Seine Mum schickte uns Weihnachtskarten mit Musik, als wollte sie mehr sagen, wüsste aber nicht, wie. Sein Dad unterschrieb nie. Zum Teil fragte ich mich, ob Mark meine Eltern als eine Art zweite Chance sah. Natürlich konnte er mit Fug und Recht verlangen, dass sie von ihm erfahren sollten. Er fand sich mit der Wartezeit nur ab, weil er selbst so lange gebraucht hatte, um sich zu outen, und glaubte, er dürfte bei diesem Thema keine Forderungen stellen. In gewisser Weise nutzte ich das sicher aus. Es verschaffte mir Luft. Dadurch konnte ich die Wahrheit immer wieder hinausschieben.
    Ohne Arbeit in Aussicht war es kein Problem, so kurzfristig nach Schweden zu fliegen. Ich wusste nur noch nicht, wie ich mir das Ticket leisten sollte. Mark bezahlen zu lassen, kam gar nicht in Frage, wenn ich meinen Eltern noch nicht einmal von ihm erzählt hatte. Ich nahm mein letztes Erspartes, überzog meinen Dispo und rief meinen Vater mit den Einzelheiten an, nachdem ich den Flug gebucht hatte. Der erste passende Flieger hob um halb zehn am nächsten Morgen in Heathrow ab und sollte mittags in Göteborg landen. Mein Vater redete kaum, er klang erschöpft und niedergeschlagen. Ich war besorgt, ob er allein auf dem abgelegenen Hof zurechtkam, und fragte, was er machte. Er antwortete:
    »Ich räume auf. Sie hat alle Schubladen und Schränke durchwühlt.«
    »Was hat sie denn gesucht?«
    »Keine Ahnung. Ich begreife es nicht. Daniel, sie hat an die Wände geschrieben.«
    Ich fragte, was sie geschrieben hatte, aber er meinte:
    »Das ist unwichtig.«
    Ich wusste schon, dass ich kein Auge zumachen würde. In meinem Kopf spulte sich immer wieder eine Erinnerung an Mum ab, von unserer Reise nach Schweden vor zwanzig Jahren, als wir allein auf einer der kleinen Schäreninseln nördlich von Göteborg waren. Wir saßen nebeneinander auf einem Felsen und streckten die Füße ins Meer. In einiger Ferne durchfurchte ein Frachtschiff das tiefe Wasser auf dem Weg zum offenen Meer, und wir sahen zu, wie die Bugwelle näher kam, ein Kräuseln auf der sonst glatten Oberfläche. Wir saßen ganz still da, hielten uns an der Hand und warteten auf das unvermeidliche Auftreffen der Welle, die auf dem flacheren Wasser anschwoll, bis sie sich an unserem Felsen brach und uns völlig durchnässte. Diese Erinnerung hatte ich ausgesucht, weil meine Mum und ich uns zu dieser Zeit besonders nahgestanden hatten; ich hätte damals nie eine wichtige Entscheidung getroffen, ohne sie mit ihr zu besprechen.
    Am nächsten Morgen bestand Mark darauf, mich nach Heathrow zu fahren, obwohl wir beide wussten, dass öffentliche Verkehrsmittel schneller gewesen wären. Als wir im Stau stecken blieben, beschwerte ich mich nicht oder sah auch nur auf die Uhr, weil ich wusste, wie sehr Mark sich wünschte, er könnte mitkommen, und ich es ihm unmöglich gemacht hatte, mehr zu tun, als mich zu fahren. Er setzte mich in der Kurzhaltezone ab und umarmte mich. Zu meiner Überraschung war er den Tränen nahe – ich spürte die unterdrückten Schluchzer in seiner Brust –, aber er hatte sich sofort wieder im Griff. Ich beruhigte ihn, er müsse mich wirklich nicht zum Gate begleiten, und so verabschiedeten wir uns draußen.
    Mit dem Flugticket und dem Pass in der Hand wollte ich gerade einchecken, als mein Handy klingelte – es war mein Dad, er rief aufgeregt:
    »Daniel, sie ist nicht
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