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Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Titel: Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)
Autoren: Tom Rob Smith
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den obersten Stock einer ehemaligen Fabrik, die jetzt in mehrere Wohnungen unterteilt war. Ich stellte mich unter die kalte Dusche und dachte darüber nach, ob ich weinen sollte – wäre das jetzt angebracht?, überlegte ich, als ginge es darum, sich eine Zigarette anzuzünden. Musste ich das als Sohn nicht sogar? Aber Tränen sollten von selbst fließen, womit ich mich schwertue. Ich zögere, bevor ich Gefühle zeige. Auf Fremde wirke ich reserviert. In diesem Fall zögerte ich allerdings nicht aus Vorsicht, sondern weil ich es nicht glauben konnte. Auf eine Situation, die ich nicht verstand, konnte ich nicht emotional reagieren. Ich würde nicht weinen. Dafür gab es zu viele offene Fragen.
    Nach dem Duschen ging ich an meinem Computer die Mails durch, die mir meine Mum in den letzten fünf Monaten geschrieben hatte, und suchte nach Hinweisen, die mir vielleicht entgangen waren. Ich hatte meine Eltern nicht mehr gesehen, seit sie im April nach Schweden gezogen waren. Bei ihrer Abschiedsparty hatten wir auf ihren gemütlichen Ruhestand angestoßen. Alle Gäste hatten vor ihrem alten Haus gestanden und ihnen fröhlich nachgewinkt. Ich habe keine Geschwister, auch keine Onkel oder Tanten, wenn ich »Familie« sage, meine ich uns drei, Mum, Dad und mich – ein Dreieck, wie ein Teil eines Sternzeichens, drei helle Sterne nah beieinander, umgeben von weitem, leerem Raum. Wir hatten nie groß darüber gesprochen, dass wir keine Verwandten hatten. Es gab nur Andeutungen – meine Eltern hatten keine leichte Kindheit gehabt, waren von ihren eigenen Eltern entfremdet, und sicher stritten sie sich vor allem deshalb nie vor mir, weil sie mir eine andere Kindheit bereiten wollten. Es ging ihnen nicht um die feine englische Art. Sie sparten nie an Liebe oder Freude, solche Gefühle drückten sie bei jeder Gelegenheit aus. Die guten Zeiten wurden gefeiert, in weniger guten gaben sie sich optimistisch. Deshalb glauben manche, ich hätte ein behütetes Leben geführt – ich habe nur die guten Zeiten gesehen. Das Schlechte wurde verborgen. Und ich spielte mit. Ich bohrte nie nach. Diese Abschiedsparty gehörte zu den guten Zeiten. Die Gäste jubelten, als meine Eltern zu ihrem großen Abenteuer aufbrachen, mit dem meine Mum in das Land zurückkehrte, das sie mit sechzehn verlassen hatte.
    In der ersten Zeit auf dem abgelegenen Hof am südlichen Zipfel Schwedens hatte meine Mum regelmäßig Mails geschickt. Darin beschrieb sie, wie wunderbar das Leben dort war, wie schön die ländliche Gegend, wie freundlich die Menschen. Wenn sie einen Hinweis enthielten, dass etwas nicht stimmte, war er sehr dezent, und ich hatte ihn nicht verstanden. Mit den Wochen wurden ihre Mails kürzer, die begeisterten Zeilen weniger. Ich hatte das als positives Zeichen gedeutet. Ich hatte gedacht, meine Mum habe sich eingewöhnt und sei einfach zu beschäftigt. Ihre letzte Mail an mich erschien auf dem Monitor:
    Daniel!
    Mehr nicht, nur mein Name, ein Ausrufezeichen – ich hatte kurz geantwortet, die Mail sei nicht richtig durchgegangen und sie solle sie bitte noch einmal schicken. Ich hatte diese kurze Nachricht als Übertragungsfehler abgetan und keinen Gedanken daran verschwendet, sie könnte ein Hilferuf gewesen sein.
    Ich sah unseren gesamten Briefwechsel durch, irritiert, dass ich so blind gewesen war, und überlegte besorgt, was ich vielleicht sonst noch übersehen hatte. Aber es gab keine verräterischen Anzeichen, keine Fantasiegespinste, ihr Stil war nicht ungewöhnlich, und sie schrieb größtenteils auf Englisch, weil ich zu meiner Schande das meiste Schwedisch, das sie mir als Kind beigebracht hatte, längst vergessen hatte. Eine der Mails enthielt zwei große Anhänge, aber keinen Text. Es waren Fotos. Ich musste sie mir schon angesehen haben, konnte mich jedoch nicht an sie erinnern. Auf dem Monitor öffnete sich das erste Foto – eine desolate Scheune mit rostigem Stahldach, ein grauer Himmel, davor ein abgestellter Traktor. Beim Hineinzoomen erkannte ich, dass sich die Fotografin – meine Mum – zum Teil im Fenster der Scheune spiegelte. Ihr Gesicht wurde vom Blitz überstrahlt, so dass es aussah, als würde ihr Kopf in weiße Lichtspitzen zerspringen. Auf dem zweiten Bild unterhielt sich mein Vater vor ihrem Bauernhaus mit einem groß gewachsenen Fremden. Mein Vater schien nicht gemerkt zu haben, dass er fotografiert wurde. Durch die große Entfernung wirkte es eher wie ein Überwachungsfoto als wie ein Familienschnappschuss. Beide
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