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Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)

Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)

Titel: Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)
Autoren: Martin Hyun
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halber auf Bürgersteigen, Stromkästen oder Parkbänken ab. An strategisch guten Stellen hat man mit dicken Fahrradschlössern kundenfreundlich leere Behälterkisten an Ampeln und Laternen befestigt. Der Kunde ist König, und ein vergraulter Kunde kehrt nicht zurück. Leergutsammler ist hier eine Berufsbezeichnung und als solche unter anderem wegen der flexiblen Arbeitszeiten so begehrt, dass man ohne Seilschaften nicht in die Kaste reinkommt.
    Der Kiez ist ein Tummelplatz der Welt. Er ist Exil aller Menschen aus spanischsprachigen Ländern sowie der Italiener, die vor ihrem Staatsoberhaupt Berlusconi geflüchtet sind. Der afrodeutsche Musiker gehört genauso zum Bild des Kiezes wie die russisch- und polnischstämmigen Obdachlosen, die auf die nächste Spargelsaison warten, der Babyspielzeugladen mit ukrainischen Besitzern, der vietnamesische Blumenladen und das China-Restaurant, die nächtlichen Besetzer der öffentlichen Toiletten und Sparkassen aus aller Herren Länder, die Extreme-Couch-Surfing betreiben, Neo-Hippies, Prenzelberger mit schwäbischem Migrationshintergrund, finnische Punker, mongolische Zigarettenverkäufer und internationale Laufstegmodels in spe, die sich vor ihrer großen Entdeckung als Kassiererinnen bei Rewe über Wasser halten. In Wahrheit sind die Obdachlosen Philosophen, die sich aus experimentellen Gründen einem existenzialistischen Leben gewidmet haben. Wer glaubt, die Occupy-Bewegung habe ihre Wurzeln in Amerika, der täuscht sich. Sie liegen in Berlin. Wie sagte schon Carl Friedrich von Weizsäcker: »Philosophie ist die Wissenschaft, über die man nicht reden kann, ohne sie selbst zu betreiben.« Diskutiert wird auf Esperanto, Russisch, Deutsch und gelegentlich auf Spanisch. Dabei wird sich nicht nur mit Ethik, Logik und der Metaphysik, der Deutung der Welt und dem Sinn des Lebens auseinandergesetzt, sondern auch mit der Frage, ob man im 21. Jahrhundert weiter sei als Platon. Der Wein hilft dabei, die komplexen Sachverhalte zu verarbeiten. Manch hitzige Debatte endet mit blauen Augen und Raufereien, wie man sie aus manch asiatischen und ukrainischen Parlamenten kennt. Im Wein liegt schließlich die Wahrheit. Tatsächlich ist die Weisheit nicht nur in den Plenarsälen des Landes zu finden, sondern vor allem auf den Straßen. Man muss nur seine Ohren spitzen und sein Herz öffnen.
    Einen einheimischen deutschen Rastafari-Mann, mit dem ich zufällig ins Gespräch kam, fragte ich, was er von der aktuellen Integrationsdebatte halte. Der bekiffte Bob Marley aus Friedrichshain, dessen Miene sich sofort verhärtete, entgegnete höhnisch: »Ich kann das Wort Integration nicht mehr hören! Deutschland muss sich zu allererst in die Weltkultur integrieren, bevor es versucht, allen anderen seinen eigenen Stempel aufzudrücken!«

BERLIN, BERLIN
    B erlin ist die Stadt, in der auch ein Ingolf Lück beim Schwarzfahren 40 Euro bezahlen und anschließend in die Handykameras lächelnd für ein Erinnerungsfoto mit den Kontrolleuren posieren muss. Eine Stadt der Superlative, in der man sogar mit Tod und Obdachlosigkeit zu Wohlstand, Reichtum und Maserati kommen kann. Mit seiner Artenvielfalt an Erdenbewohnern und seinem enormen Schatz an Kultur ist Berlin, Berlin nur schwer zu schocken. In zahllosen Liedern, Romanen, Filmen und Gedichten wurde die Stadt verewigt. Ol Blue Eyes Sinatra huldigte nicht nur dem Big Apple mit einem Lied, das heute rund um den Globus von Yuppies in Karaoke-Bars missbraucht wird, sondern auch Berlin, Berlin. Schriftsteller schrieben, Philosophen philosophierten, Gaukler gaukelten, Dichter dichteten, Musiker musizierten, Filmemacher filmten, Überlebenskünstler überlebten, Migranten migrantisierten, und Rapper rappten über diesen mystischen Ort, als gehöre ein Besuch dieser Stadt zur Lebenspflicht eines jeden kultivierten Menschen wie für Muslime die Hadsch.
    Berlin ist nicht Paris, die Stadt der ewigen Liebe, oder LA, die Stadt der Engel. Berlin ist auch nicht wie Sachsen-Anhalt das Land der Frühaufsteher. Berlin kennt keine Minderwertigkeitskomplexe und kommt ganz ohne Anhang aus. Berlin ist Berlin, und wenn sich die Stadt selbst ein Lied hätte aussuchen können, das ihr gewidmet werden sollte, dann wäre es mit Sicherheit Gloria Gaynors »I am what I am« gewesen. Berlin ist ein Käfig voller Narren, eine Rocky Horror Picture Show, die trotz des Hypes und Starrummels nicht zu einer Diva mutiert und ohne Allüren geblieben ist. Menschen auf den roten Teppichen belächelt
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