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Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)

Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)

Titel: Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)
Autoren: Martin Hyun
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oftmals zwei bis drei wertvolle Sekunden. Wenn wir es dennoch gegen alle Widrigkeiten schafften, ließ Vater es sich nicht nehmen, vor der Geldübergabe eine kurze Rede zu halten, in der er uns daran erinnerte, dass wir im Paradies lebten und uns glücklich schätzen könnten, dass unsere Teller stets mit reichlich Reis gefüllt seien.
    Eines Tages beim obligatorischen gemeinsamen Abendessen in der Küche sagte Vater auf Koreanisch: »Wenn du im Alter von dreißig Jahren immer noch zu Hause lebst, dann sehe ich mich gezwungen, dich vor die Tür zu setzen!« Die Seealgen aus der Suppe blieben mir fast im Halse stecken, weil ich meinen Ohren nicht traute, als ich diese befreienden Worte aus Vaters Mund hörte. Damit Vater keinen Verdacht von meinem Taumel der Freiheit schöpfte und von meinen innerlichen Jubelgesängen nichts mitbekam, spielte ich die beleidigte Leberwurst. Ich appellierte an Vaters Gewissen, wie er denn sein eigenes Fleisch und Blut aus dem Hause schmeißen könne, nach allem, was man gemeinsam durchgemacht habe. »Du musst anfangen, dein eigenes Leben zu führen!«, entgegnete mir Vater, sichtlich unberührt. Am Ende meiner oscarreifen Performance bot ich Vater an, schon gleich am nächsten Morgen auszuziehen, wenn ihm meine Anwesenheit doch so unerträglich sei.
    Mein letzter Vorhang war gefallen, und das Kapitel »Zuhause ist Korea« neigte sich dem Ende zu. Ich kam zu der Erkenntnis, dass die Freiheit ein Phänomen ist, das plötzlich auftaucht, wenn man am wenigsten damit rechnet. Ich hatte es geschafft, die Grenze zu öffnen, ohne unterirdische Fluchttunnel bauen zu müssen, in einen Hungerstreik zu treten oder eine Revolution zu starten. Die Freiheit gehörte mir. Meine Zeit des Auskostens der Früchte der Freiheit war gekommen. Eine Zeit, in der ich keine kalten Duschen, morgendlichen Appelle, abendlichen Zapfenstreiche und Befehle mehr zu befürchten hatte. Dennoch war mir etwas mulmig zumute, wie ich mit dieser plötzlichen Freiheit umgehen würde. Ich fürchtete, in der freien Welt in ein tiefes Loch zu fallen, nur um mich nach meinem alten Leben zurückzusehnen. Der Gewinn der Freiheit ist doch so etwas wie ein Sechser im Lotto. Im Siegesrausch treiben es einige zu bunt, sie gehen verschwenderisch mit dem neu Gewonnenen um, was nicht selten in Tragödien endet. Doch im Moment des Glückes überwogen die Freude und die Neugier, was mir das postkoreanische Leben bringen würde.
    Der Tag des Abschieds aus Vaters 150 m² umfassendem Korea kam schneller als gedacht. Ein Stellenangebot aus Berlin kam Vaters Rausschmiss zuvor. 600 Kilometer liegen zwischen Krefeld und Berlin, genug, um die Ausreise von zu Hause ohne weiteres genehmigt zu bekommen. Berlin – schon von weitem hörte ich die süße Musik der Freiheit spielen, die so wundervoll in meinen Ohren klang. Vater, die chinesische Mauer, wie wir ihn nannten, ordnete zu meinen Ehren einen Großen Zapfenstreich an. Vor den geladenen Staatsgästen, dem Who-is-Who der Familie – Julia, Simone, Mutter und unsere Collie-Hündin Ära – hielt Vater eine gigantische Ansprache, in der er mich weniger an meine Rechte, sondern vor allem an meine Pflichten erinnerte, mich ermahnte, Frauen fernzubleiben, und darauf verwies, im Besitz eines Navigationssystems zu sein, in das meine Adresse bereits eingespeichert sei, wodurch jederzeit die Möglichkeit zur Stichkontrolle bestünde. All meine Energie sollte ich fortan auf mein berufliches Fortkommen legen. Während seiner Ansprache benutzte Vater sehr oft das Wort »Halligalli«, wahrscheinlich eine Vokabel aus seinen Zeiten unter Tage, die er von seinem Vorgesetzten gelernt haben muss.
    Als Vater fertig war, gestattete er mir, ein paar Sätze an die Familie zu richten. Zumindest fast. Vielmehr gab er mir zu verstehen, dass ich ihm nachsprechen sollte, was ich auch tat, um auf den letzten Metern vor der großen Freiheit nichts zu riskieren. »Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt als treu dienender Soldat der Familie aus Vaters Korea – mit sofortiger Wirkung. Ich danke Mutter, dass sie mich über Jahrzehnte wohlgenährt hat, und Vater für sein strenges Regiment, dank dem ich als Koreanischstämmiger in Deutschland nun gut gerüstet mein Zuhause verlasse. Es war mir eine Ehre, der Familie bis dahin gedient zu haben. Ich gedenke, dies in der Ferne weiterhin zu tun.« Als ich die letzten Zeilen nachsprach, schaltete Vater bereits die alte Karaoke-Maschine im Wohnzimmer an und sang mir zu Ehren – nicht
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