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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung
Autoren: Alastair Reynolds
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watete los und zog das Boot hinter sich her. Die Steine
unter seinen Füßen waren tückisch, doch hier
leisteten ihm seine krummen Beine ausnahmsweise gute Dienste. Er
schritt unbeirrt voran, bis ihm das Wasser nur noch bis zur
Hälfte der Stiefelschäfte reichte. Als das Boot den Grund
berührte, zerrte er es noch etwa zehn Schritte weiter, mehr
wagte er nicht.
    Auch Vasko war jetzt im Seichten angekommen. Der junge Mann
stellte die Schwimmbewegungen ein und stand auf.
    Scorpio zog das Boot am Dollbord zu sich heran und stieg ein. Der
dicke Schorf aus korrodiertem Metall löste sich, dicke Brocken
blieben ihm in der Hand. Das Boot hatte mehr als hundertundzwanzig
Stunden im Wasser hinter sich, dies war vermutlich seine letzte
Fahrt. Er beugte sich über die Seite und ließ den kleinen
Anker fallen. Das hätte er auch früher schon tun
können, aber Anker korrodierten ebenso leicht wie
Bootsrümpfe. Man verließ sich besser nicht allzu fest auf
sie.
    Noch ein Blick zu Vasko. Der balancierte mit weit ausgebreiteten
Armen auf das Boot zu.
    Scorpio sammelte die Kleider seines Begleiters ein und stopfte sie
in seinen Rucksack, der bereits Verpflegung, frisches Wasser und die
Sanitätsausrüstung enthielt. Dann schwang er sich den
Ranzen auf den Rücken und watete die letzten Schritte an Land,
wobei er nicht versäumte, sich gelegentlich nach Vasko
umzusehen. Scorpio wusste, dass er den Jungen hart angefasst hatte,
aber der Jähzorn hatte ihn übermannt, und er war nicht mehr
fähig gewesen, sich zu beherrschen. Diese Entwicklung
beunruhigte ihn. Dreiundzwanzig Jahre war es her, seit er zum letzten
Mal im Zorn und nicht in Ausübung seiner Pflicht die Hand gegen
einen Menschen erhoben hatte. Aber jetzt sah er ein, dass man auch
mit Worten Gewalt ausüben konnte. Früher hätte er
darüber nur gelacht, doch inzwischen hatte er längst ein
neues Leben begonnen. Er hatte geglaubt, gewisse Dinge
überwunden zu haben.
    Natürlich hatte die Aussicht auf ein Wiedersehen mit Clavain
diese Wut geweckt. Ängste, Emotionen, die zurückreichten in
die blutigen Sümpfe der Vergangenheit waren
übermächtig geworden. Clavain wusste, was Scorpio gewesen
war. Clavain wusste auch, wozu er fähig war.
    Er blieb stehen und wartete, bis der junge Mann ihn eingeholt
hatte.
    »Sir…« Vasko war außer Atem und zitterte vor
Kälte.
    »Wie war es?«
    »Sie hatten Recht, Sir. Es war kälter, als es den
Anschein hatte.«
    Scorpio nahm den Rucksack ab. »Das dachte ich mir, aber Sie
haben sich gut gehalten. Ich habe Ihre Sachen hier. Damit werden Sie
rasch wieder warm. Sie bedauern doch nicht, dass Sie mitgekommen
sind?«
    »Nein, Sir. Ich wollte schließlich ein
Abenteuer.«
    Scorpio reichte ihm seine Sachen. »Wenn Sie erst in meinem
Alter sind, werden Sie darauf nicht mehr so scharf sein.«
    Es war windstill wie so oft, wenn die Wolkendecke tief über
Ararat hing. Die nähere Sonne – das Gestirn, um das Ararat
kreiste – hing als verwaschener Fleck tief am westlichen Himmel.
Ihre weiter entfernte binäre Schwester blitzte wie ein
weißer Diamant am gegenüberliegenden Horizont durch eine
Wolkenlücke. Offiziell hießen die beiden Sonnen P Eridani
A und B, aber alle Welt sprach nur von der Hellen und der Matten
Sonne.
    Im silbrig grauen Tageslicht schwappte das Wasser wie eine
schmutzige, graugrüne Suppe um Scorpios Stiefel. Doch obwohl man
nicht bis auf den Grund sehen konnte, war die Dichte schwimmender
Mikroorganismen für Ararat vergleichsweise gering. Vasko war
beim Schwimmen dennoch ein gewisses Risiko eingegangen, aber es war
richtig gewesen, denn auf diese Weise waren sie mit dem Boot viel
näher ans Ufer gekommen. Scorpio verstand nicht viel von solchen
Dingen, aber er wusste immerhin, dass wichtige Begegnungen zwischen
Menschen und Schiebern zumeist in Bereichen des Ozeans stattfanden,
wo das Wasser so mit Organismen übersättigt war, dass
regelrechte Flöße aus organischer Materie entstanden. Hier
war die Konzentration so niedrig, dass kaum Gefahr bestand, die
Schieber könnten in ihrer Abwesenheit das Boot auffressen oder
es mithilfe lokal begrenzter Gezeitenströmungen aufs offene Meer
hinaustragen.
    Sie hatten die sanft ansteigende Felsebene erreicht, die vom Meer
aus nur als schwarzer Strich zu sehen gewesen war. Hier und dort
stand das Wasser in flachen grauen Tümpeln, in denen sich der
bedeckte Himmel spiegelte. Dahinter ragte in einiger Entfernung ein
weißer Pickel auf. Den steuerten sie an.
    »Sie haben mir noch immer
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