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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung
Autoren: Alastair Reynolds
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einem männlichen Erwachsenen, bei dem ihm
während der letzten Untersuchung gewisse
Entwicklungsstörungen aufgefallen waren. Er hatte die
Einstellungen des Tanks korrigiert, aber damit wohl nichts bewirkt.
Für einen Laien sah der Körper ganz normal aus, aber er
ließ die vollkommene Symmetrie vermissen, nach der Jasmina
geradezu süchtig war. Grelier schüttelte den Kopf und
fasste nach einem der blanken Ventilräder. Die Entscheidung war
wie immer schwierig. Der Körper blieb hinter den üblichen
Qualitätsmaßstäben zurück, aber das galt auch
für die Geflickten. War dies der Zeitpunkt, um Jasmina von einer
Senkung der Standards zu überzeugen? Schließlich war sie
es, die die Anlage bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit
strapazierte.
    Nein, entschied Grelier. Wenn er aus dieser ganzen schäbigen
Quaiche-Geschichte eine Lehre gezogen hatte, dann die, dass man von
seinen Standards nicht abgehen sollte. Jasmina würde sich
empören, wenn er einen Körper sterben ließe, aber
langfristig würde sie seinem Urteil, seinem
unerschütterliches Festhalten an erstklassiger Arbeit die
Achtung nicht versagen.
    Er blockierte die Salzlösungszufuhr, indem er das Messingrad
zudrehte. Dann kniete er nieder und schob die meisten
Nährstoffventile hinein.
    »Tut mir Leid«, sagte er zu dem glatten, ausdruckslosen
Gesicht hinter dem Glas, »aber du warst einfach nicht gut
genug.«
    Er warf einen letzten Blick auf den Körper. In wenigen
Stunden würden die grotesken Folgen des Zellabbaus für
jedermann sichtbar sein. Man würde den Körper in seine
chemischen Bestandteile zerlegen und diese innerhalb der Anlage
anderweitig wieder verwenden.
    Sein Kopfhörer vibrierte. Er legte einen Finger an die
Muschel. Eine Stimme ließ sich vernehmen.
    »Grelier… ich hatte Sie bereits erwartet.«
    »Ich bin schon unterwegs, Madame.«
    Auf dem Vivifikationstank begann ein rotes Licht zu blinken,
gleichzeitig heulte eine Sirene auf. Mit einem Schlag auf die
Handsteuerung schaltete Grelier Sirene und Blinklicht ab.
    In der Körperzuchtanlage kehrte Ruhe ein. Nur gelegentlich
gluckerte es in einer Nährstoffleitung, oder ein Ventil schloss
sich mit leisem Klicken.
    Grelier nickte zufrieden. Alles war unter Kontrolle.
Gemächlich setzte er seinen Weg fort.
     
    Im gleichen Augenblick, in dem Grelier das letzte
Nährstoffventil schloss, verzeichneten die Sensoren der Gnostische Himmelfahrt eine Anomalie. Sie dauerte nur etwas
mehr als eine halbe Sekunde, war aber so ungewöhnlich, dass im
Datenstrom ein Merker gesetzt wurde: ein Signal, das auf ein
besonderes Ereignis hinwies.
    Für die Sensorsoftware war die Sache damit erledigt: Die
Anomalie hatte sich nicht weiter ausgebreitet, alle Systeme
arbeiteten wieder normal. Der Merker war eine reine Formalität;
ob eine Reaktion darauf erfolgen sollte, wurde auf einer anderen
Ebene von einer etwas intelligenteren Monitorsoftware
entschieden.
    Diese zweite Schicht – sie hatte die Aufgabe, die Funktion
aller schiffsweit aktiven Sensor-Subsysteme zu überwachen –
registrierte den Merker zusammen mit mehreren Millionen anderen, die
im gleichen Zyklus gesetzt worden waren, und wies ihm eine
Klassifizierung in ihrem Aufgabenprofil zu. Seit dem Ende der
Anomalie waren knapp zwei hunderttausendstel Sekunden vergangen:
für Rechnerverhältnisse eine Ewigkeit, aber bei der
Ausdehnung des cybernetischen Nervensystems eines Lichtschiffs
unvermeidlich. Jedes Signal hatte von einem Ende der Gnostische
Himmelfahrt zum anderen drei bis vier Kilometer Kabel durch den
Hauptrumpf zu überwinden, hin und zurück sogar sechs bis
sieben Kilometer.
    Auf einem Schiff dieser Größe ging alles langsam, aber
das war nicht weiter von Belang. Dank seiner riesigen Masse reagierte
ein Lichtschiff ohnehin nur träge auf äußere Reize:
Blitzschnelle Reflexe brauchte es ebenso wenig wie ein
Brontosaurus.
    Die Monitorschicht arbeitete den Stapel ab.
    Sie überprüfte mehrere Millionen Ereignisse, von denen
die meisten harmlos waren. Die eingebaute Wahrscheinlichkeitsstruktur
erlaubte ihr, die meisten Merker ohne Zögern zu deaktivieren.
Sie verwiesen auf vorübergehende Störungen, die nicht auf
gravierende Hardwareprobleme schließen ließen. Nur etwa
hunderttausend waren ansatzweise verdächtig.
    An dieser Stelle verfuhr die zweite Ebene wie immer: Sie fasste
die hunderttausend anomalen Ereignisse zu einem Paket zusammen,
fügte ihre eigenen Anmerkungen und vorläufigen Erkenntnisse
hinzu und schickte das Ganze an die
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