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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung
Autoren: Alastair Reynolds
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benähme, musste die lästige Geschichte
zwangsläufig an Dringlichkeit verlieren.
    Die Unterpersönlichkeit würde sie nicht vergessen –
dazu wäre sie gar nicht fähig –, aber es gab in der
nächsten Stunde sicherlich zahllose andere Dinge zu
erledigen.
    Gut. Die Entscheidung war gefallen. Man würde so tun, als
wäre überhaupt nichts passiert.
    So kam es, dass Königin Jasmina nur einen Sekundenbruchteil
lang über die Sensoranomalie informiert wurde. Und so kam es,
dass kein menschliches Besatzungsmitglied der Gnostische
Himmelfahrt – weder Jasmina, noch Grelier, Quaiche oder
irgendein anderer Ultra – jemals erfuhr, dass der
größte Gasriese des Systems, das sie ansteuerten, des
Systems mit dem fantasielosen Namen 107 Piscium, mehr als eine halbe
Sekunde lang einfach aufgehört hatte zu existieren.
     
    Königin Jasmina hörte die Schritte des Generalmedikus
auf dem Metallboden des Korridors, der ihren Kommandoraum mit dem
Rest des Schiffes verband. Grelier vermittelte wie immer den
Eindruck, es nicht sonderlich eilig zu haben. Ob sie seine
Loyalität zu sehr strapaziert hatte, als sie Quaiche
umschmeichelte? Möglich wäre es. Und in diesem Fall
wäre es vermutlich Zeit, Grelier wieder einmal zu zeigen, wie
sehr sie ihn schätzte.
    Ein Flackern auf den Anzeigeschirmen des Schädels erregte
ihre Aufmerksamkeit. Die Berichte, die sie durchblätterte,
verschwanden und wurden für einen Moment durch eine Textzeile
ersetzt – irgendetwas von einer Sensoranomalie.
    Königin Jasmina schüttelte den Schädel. Sie war
ohnehin überzeugt, dass das grässliche Ding besessen war,
aber jetzt wurde es offenbar auch noch senil. Sie hätte es am
liebsten fortgeworfen, aber sie war abergläubisch, und angeblich
waren noch jedem, der den Rat des Schädels missachtete,
schreckliche Dinge zugestoßen.
    Jemand klopfte höflich an die Tür.
    »Herein, Grelier.«
    Die Panzertür schob sich auf. Grelier trat in den Raum. Seine
weit aufgerissenen Augen leuchteten weiß, bis sie sich auf das
Halbdunkel eingestellt hatten. Grelier war schlank und wirkte stets
adrett. Sein dichtes schlohweißes Haar war am Oberkopf zu einer
ebenen Fläche geschoren. Die Züge waren platt und wenig
ausgeprägt wie bei einem Boxer. Er trug einen sauberen
weißen Arztkittel und eine Schürze; die Hände
steckten wie immer in Handschuhen. Seinen Gesichtsausdruck fand
Jasmina jedes Mal wieder komisch: Er schien jeden Moment in
Tränen oder in Gelächter ausbrechen zu wollen. Doch das
täuschte: Der Generalmedikus neigte nicht zu extremen
Gefühlsäußerungen.
    »Viel zu tun in der Körperzucht, Grelier?«
    »Könnte man sagen, Madame.«
    »Ich rechne mit einem Nachfrageschub. Die Produktion muss
unvermindert fortgesetzt werden.«
    »In diesem Punkt kann ich Sie beruhigen.«
    »Ich wollte es nur klarstellen.« Sie seufzte.
»Genug geplaudert. An die Arbeit.«
    Grelier nickte. »Sie haben bereits angefangen, wie ich
sehe.«
    Während sie auf ihn wartete, hatte sie sich am Thron
festgeschnallt. Knöchel und Oberschenkel wurden von Lederriemen
gehalten, um den Bauch lag ein breites Band, der rechte Arm war an
der Armlehne fixiert, nur der linke Arm war noch frei. Mit der linken
Hand hielt sie den Schädel so, dass er ihr das Gesicht zuwandte
und sie die Anzeigeschirme sehen konnten, die aus den
Augenhöhlen quollen. Bevor sie nach dem Schädel griff,
hatte sie den rechten Arm in einen rauen schwarzen Eisenkäfig
geschoben, der seitlich an die Armlehne geschraubt war. Im Innern
dieses so genannten Schmerzminderers befanden sich mehrere mit
Schrauben verstellbare Platten, die sich schon jetzt unangenehm fest
an ihre Haut pressten.
    »Tun Sie mir weh«, befahl die Königin.
    Über Greliers Gesicht huschte der Schatten eines
Lächelns. Er trat an den Thron und prüfte die Einstellung
des Schmerzminderers. Dann zog er eine Schraube nach der anderen um
genau eine Vierteldrehung an. Die Platten pressten sich fester auf
den Unterarm der Königin, der seinerseits auf fest montierten
Tafeln lag. Grelier betätigte die Schrauben des
Foltergeräts mit so liebevoller Sorgfalt, als stimme er ein
Saiteninstrument.
    Es war nicht angenehm. Aber das war so gewollt.
    Nach etwa einer Minute hielt Grelier inne und trat hinter den
Thron, wo er einen kleinen Sanitätskasten aufbewahrte. Jasmina
sah zu, wie er eine Rolle Schlauch herausnahm und ein Ende in einer
übergroßen Flasche mit strohgelber Flüssigkeit
versenkte. Das andere Ende steckte er auf eine
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