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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung
Autoren: Alastair Reynolds
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Monitorsoftware der dritten
Ebene.
    Diese Softwareschicht hatte die meiste Zeit gar nichts zu tun: Sie
war nur dazu da, die Anomalien zu studieren, die von den weniger
intelligenten Schichten an sie weitergeleitet wurden. Nachdem sie
geweckt worden war, widmete sie dem Dossier gerade so viel
Aufmerksamkeit, wie ihr elementares Bewusstsein aufzubringen
vermochte. Für eine Maschinenintelligenz stand sie noch
unterhalb der Gammastufe, aber sie verrichtete diese Aufgabe schon so
lange, dass sie einen riesigen Schatz an heuristischer Erfahrung
angesammelt hatte. So fand sie es kränkend offensichtlich, dass mehr als die Hälfte der Ereignisse
ihrer Beachtung in keiner Weise würdig waren. Die restlichen
Fälle waren allerdings interessanter, und sie nahm sich die
Zeit, sie genauer zu betrachten. Zwei Drittel dieser Anomalien waren
schon öfter aufgetreten: Sie gingen auf Systeme zurück, die
tatsächlich unter wenn auch nur vorübergehenden
Störungen litten. Doch da keines dieser Systeme etwas mit
kritischen Funktionen des Schiffes zu tun hatte, konnte man in aller
Ruhe abwarten, bis sich die Störungen verschlimmerten.
    Bei einem Drittel der interessanten Fälle handelte es sich um
neue. In etwa neunzig Prozent davon wusste die Software, dass bei den
betroffenen Bauteilen und der Programmierung solche Fehler hin und
wieder zu erwarten waren. Nur eine Hand voll davon bezog sich auf
potenziell kritische Bereiche, und diese Ausfälle ließen
sich samt und sonders mit routinemäßigen
Reparaturverfahren beheben. Die Schicht schickte unverzüglich
entsprechende Anweisungen an die Instanzen, die für die Wartung
der Infrastruktur zuständig waren.
    So gelangten neue Einträge in die Pufferspeicher von
Servomaten, die bereits an verschiedenen Orten innerhalb des Schiffes
mit anderen Reparatur- und Wartungsaufgaben betraut waren. Es mochte
Wochen dauern, bis diese Arbeiten an die Reihe kamen, aber irgendwann
würden sie erledigt werden.
    Damit blieb ein kleiner Restbestand von Fehlern, die potenziell
bedenklich waren. Sie waren nicht so einfach zu erklären, und
die Schicht wusste auch nicht sofort, welche einschlägigen
Befehle sie an die Servomaten absetzen sollte. Aber sie war nicht
übermäßig beunruhigt, soweit sie zu solchen Regungen
überhaupt fähig war: Sie wusste aus Erfahrung, dass solche
Macken im Allgemeinen nicht bösartig waren. Dennoch blieb ihr
nichts anderes übrig, als die rätselhaften Ausnahmen an die
nächsthöhere Schicht der Bordsoftware zu verweisen.
    So wurde auch die Anomalie durch drei zunehmend intelligentere
Schichten nach oben weitergereicht.
    Als die letzte Schicht geweckt wurde, befand sich nur noch ein
auffälliges Ereignis in dem Paket: die ursprüngliche
Sensoranomalie, die nach etwas mehr als einer halben Sekunde wieder
verschwunden war. Keine der unteren Schichten hatte den Fehler
mithilfe der gängigen Statistiken und Suchvorschriften
aufzuklären vermocht.
    Dass sich ein Ereignis so weit nach oben vorarbeitete kam nur ein-
bis zweimal pro Minute vor.
    Nun wurde zum ersten Mal eine echte Intelligenz mobilisiert. Die
Gamma-Persönlichkeit, der die Überwachung von Ausnahmen der
sechsten Schicht oblag, war Teil der letzten Verteidigungslinie
zwischen der Cybernetik und der lebendigen Schiffsbesatzung. Sie
hatte die schwierige Entscheidung zu treffen, ob ein Fehler schwer
wiegend genug war, um einem der menschlichen Inspektoren vorgelegt zu
werden. Im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, nicht allzu oft Alarm
zu schlagen: Ihre Herren bekämen sonst womöglich den
Eindruck, es wäre Zeit für ein Upgrade. So zauderte die
Unter-Persönlichkeit etliche Sekunden, bis sie zu einem
Entschluss kam.
    Schließlich erklärte sie die Anomalie zu einem der
seltsamsten Fälle in ihrer Geschichte. Auch eine eingehende
Überprüfung sämtlicher Logikpfade im System lieferte
keine Erklärung für eine so vollkommen und radikal
außergewöhnliche Erscheinung.
    Um effektiv arbeiten zu können, brauchte die
Unterpersönlichkeit eine abstrakte Vorstellung von der realen
Welt. Das Modell durfte nicht zu komplex sein, musste sie aber
befähigen, angemessen zu beurteilen, was die Sensoren an
externen Phänomenen erwarten konnten und was so drastisch
unwahrscheinlich war, dass es als Halluzination interpretiert werden
musste, die erst in einer späteren Phase in die
Datenverarbeitung eingeflossen war. Sie musste die Gnostische
Himmelfahrt als physisches, im Raum eingebettetes Objekt
begreifen. Sie musste verstehen,
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