Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung
Autoren: Alastair Reynolds
Vom Netzwerk:
durch das
Zusammenspiel von Felsen, Licht und Schatten.
    Er hatte Angst, obwohl er es nur ungern zugab. Seit er Clavain zum
letzten Mal gesehen hatte, waren sechs Monate vergangen. Eigentlich
keine lange Zeit, schon gar nicht im Verhältnis zum bisherigen
Leben des Mannes. Dennoch wurde Scorpio das Gefühl nicht los,
dass ihm eine Begegnung mit einem Menschen bevorstand, den er seit
Jahrzehnten nicht mehr getroffen hatte und der von der Zeit und vom
Leben bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden war. Was würde er
tun, falls er erkennen müsste, dass Clavain tatsächlich den
Verstand verloren hatte? Würde er es überhaupt erkennen?
Scorpio hatte so lange unter Standardmenschen gelebt, dass er
ziemlich sicher war, ihre Absichten, ihre Stimmungen und ihre
allgemeine geistige Verfassung richtig einschätzen zu
können. Die Unterschiede im Denken von Menschen und
Hyperschweinen waren angeblich gar nicht so groß. Aber wenn es
um Clavain ging, nahm Scorpio sich jedes Mal wieder vor, alle
Erwartungen auszuschalten. Clavain war anders als andere Menschen.
Die Geschichte hatte ihn geprägt und zu einem einmaligen Wesen,
womöglich sogar zu einem Ungeheuer gemacht.
    Scorpio war fünfzig Jahre alt. Er kannte Clavain, seit er vor
einem halben Leben von dessen früherer Partei im
Yellowstone-System gefangen genommen worden war. Clavain hatte den
Synthetikern wenig später den Rücken gekehrt, und nachdem
auf beiden Seiten etliche Vorbehalte ausgeräumt worden waren,
hatten er und Scorpio schließlich begonnen, für dieselbe
Sache zu kämpfen. Mithilfe einer Horde von Soldaten und
verschiedenen zwielichtigen Existenzen aus dem Dunstkreis von
Yellowstone hatten sie ein Schiff gestohlen, um damit ins
Resurgam-System zu fliegen. Auf dem Weg dorthin waren sie von
Clavains ehemaligen Synthetikergenossen unentwegt verfolgt und
angegriffen worden. Von Resurgam waren sie dann – mit einem ganz
anderen Schiff – hierher auf den blaugrünen Wasserplaneten
Ararat gekommen. Seit dem Aufbruch von Resurgam hatten die beiden
kaum noch Kämpfe zu bestehen gehabt, hatten aber beim Aufbau der
zeitlich befristeten Kolonie auch weiterhin zusammengearbeitet.
    Mit sorgfältiger Planung hatten sie ganze Gemeinden ins Leben
gerufen. Wenn es dabei zum Streit gekommen war, dann immer nur in
wirklich wichtigen Dingen. Sobald einer von beiden zu hart oder zu
weich werden wollte, war der andere zur Stelle und sorgte für
den nötigen Ausgleich. Diese Jahre hatten Scorpios Charakter so
weit gestärkt, dass er aufhörte, die Menschen mit jedem
Atemzug zu hassen. Allein schon deshalb stand er in Clavains
Schuld.
    Nur war die Welt leider nicht so einfach.
    Schließlich war Clavain vor fünfhundert Jahren geboren
worden und hatte den größten Teil dieser Zeit bei vollem
Bewusstsein durchlebt. Wenn nun der Clavain, wie ihn Scorpio und
übrigens auch die meisten Kolonisten kannten, nur eine
Übergangsphase wäre, ein kurzer, trügerischer
Sonnenstrahl an einem ansonsten stürmischen Tag? Zu Anfang ihrer
Bekanntschaft hatte Scorpio ihn stets mit halbem Auge beobachtet, um
einen etwaigen Rückfall in die Haltung des gewissenlosen
Schlächters sofort zu erkennen. Aber er hatte nicht nur nichts
Verdächtiges bemerkt, sondern mehr als genügend Hinweise
darauf erhalten, dass Clavain zu Unrecht als Monstrum in die
Geschichte eingegangen war.
    Doch in den letzten zwei Jahren war ihm diese Gewissheit unter den
Fingern zerronnen. Clavain war nicht etwa grausamer,
streitsüchtiger oder gewalttätiger geworden, aber er hatte
sich unzweifelhaft verändert. Es war, als zeigte sich eine
Landschaft von einem Augenblick zum anderen in einem neuen Licht.
Scorpio wusste zwar, dass von anderer Seite ähnliche Zweifel an
seiner eigenen Stabilität gehegt wurden, aber das war ihm nur
ein schwacher Trost. Er kannte seinen eigenen Geisteszustand und
durfte hoffen, dass er nie wieder einen Menschen so verletzen
würde, wie er es in der Vergangenheit getan hatte. Aber was im
Kopf seines Freundes vorging, konnte er nur vermuten. Sicher war
lediglich, dass der Clavain, den er kannte, der Clavain, an dessen
Seite er gekämpft hatte, sich ganz in sich zurückgezogen
hatte und in einer Welt lebte, zu der er niemandem Zugang
gewährte. Schon bevor er sich auf dieser Insel verschanzt hatte,
war Scorpio an einen Punkt gelangt, wo er den Mann kaum noch
verstand.
    Aber er machte dafür nicht Clavain verantwortlich. Das
hätte niemand getan.
    Er setzte seinen Weg fort, bis er sicher sein konnte,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher