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Odice

Odice

Titel: Odice
Autoren: Anais Goutier
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Augenkontakt geriet zu einem regelrechten Duell. Schließlich war er es, der den Blick senkte und Odice triumphierte innerlich. In ihrer eigenen Galerie wäre ein solches Eingeständnis von Unterlegenheit und Schwäche absolut undenkbar für sie gewesen.
    »Nun, wir werden sehen«, gab sie betont kühl zurück, aber sie spürte, dass sich ihre Mundwinkel ohne ihr eigenes Zutun zu einem ganz und gar entzückten Lächeln verzogen hatten und damit eine völlig andere Sprache sprachen.
    »Darf ich Sie morgen Abend zur Vernissage begrüßen?«
    Sie überreichte ihm eine der eleganten Einladungskarten.
    »Wir werden sehen«, wiederholte er ihre Worte, wobei er ihnen einen kryptischen Beiklang verlieh.
    Als der Fremde die Galerie verlassen hatte, war Odice nicht sicher, ob sie sich zehn Minuten ihrer kostbaren Zeit mit einem Hochstapler abgegeben hatte, von dessen angeblicher »Assistentin« sie niemals ein Wort hören würde. Andererseits gab es in Paris genügend reiche Exzentriker, deren Kunstkäufe nach genau diesem Schema verliefen und mit denen sollte man es sich nach Möglichkeit nicht verscherzen.

    Julien verließ die Galerie Aneau mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Als er den schwarzen Porsche Cayman startete, war er in Hochstimmung. Er war schon mehrmals an dieser renommierten Galerie für Gegenwartskunst in der Rue Vaneau vorbeigekommen, aber diesmal hatten ihn die Arbeiten beim Blick durchs Schaufenster einfach umgehauen.
    Und dann diese junge Galeristin – Odice Aneau. Sie gefiel ihm wirklich. Sie war klug und wunderschön. Er hatte sich alle Einzelheiten ihrer Erscheinung eingeprägt. Ihre langen, wilden rotblonden Locken, die großen smaragdgrünen Augen, die schlanke, nein eher elfenhaft-zarte Gestalt mit den erstaunlich weiblichen Brüsten. Er mochte ihren Stil, wie sie das teure Designerkleid mit den 29-Euro-Pumps kombinierte. Und er liebte ihren Duft. Ihm gefiel ihr Parfum, aber er liebte ihren ganz persönlichen Duft. Da waren die knapp 15.000 Euro für das Gemälde gut investiert. Es hatte ihm imponiert, wie sie über ihren eigenen Schatten gesprungen war und so freimütig und unprätentiös über das heikle Bildthema gesprochen hatte. Odice – er sprach ihren Namen laut aus und der Klang gefiel ihm.
    Trotzdem durfte er sie nicht wiedersehen.
    Sie war nichts für ihn, passte nicht in sein Beuteschema. Sie war eine Alphafrau und das vertrug sich nun mal nicht mit seinen Vorstellungen. Die Euphorie war mit einem Mal verflogen. Julien drehte den Lautstärke-Knopf des Radios hoch und summte bei Bryan Ferrys Slave to love mit, während er den Wagen leichthändig durch den dichten Pariser Verkehr manövrierte.

Kapitel 2
    Der Fremde hatte Wort gehalten. Noch am gleichen Nachmittag hatte sich eine gewisse Madame Signac telefonisch bei Odice gemeldet und die Zahlungsmodalitäten mit ihr besprochen. Außerdem hatte sich der Kunde, der es noch immer vorzog, anonym zu bleiben, doch gegen eine Lieferung durch die Galerie entschieden.
    Man hatte ein eigenes Transportunternehmen beauftragt, das die Geisha nach Ende der äußerst erfolgreichen Ausstellung abholte.
    Odice hatte den Käufer mit den verführerischen Eisaugen nicht wiedergesehen.

Kapitel 3
    2

    Odice drehte den eleganten cremeweißen Umschlag, auf den in geschwungenen schwarzen Lettern ihr Name geschrieben stand, mehrmals unschlüssig hin und her. Dann schob sie ihn schnell unter zwei andere Umschläge mit Werbung für eine Optiker-Kette und für einen städtischen Juwelier, um sich stattdessen der Telefonrechnung zuzuwenden.
    Natürlich konnte sie sich nicht auf die Rechnung konzentrieren und natürlich war es vollkommen albern, den Umschlag auf diese Weise aus ihrem Blickfeld zu verbannen. Sie lebte allein, also brauchte sie ihn vor niemandem zu verstecken, als vor sich selbst. Sie konnte ihn ungeöffnet nehmen, ins Arbeitszimmer hinübergehen und ihn dem Reißwolf zum Fraß vorwerfen. Oder sie konnte ganz unverbindlich einen Blick hineinwerfen, ihre Neugier stillen und ihn anschließend auf dem gleichen Weg entsorgen.
    Odice spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Es gab keinen Grund, aufgeregt zu sein. Es handelte sich um keinen Faust’schen Pakt mit dem Teufel, der in dem Moment besiegelt war, in dem sie den Umschlag öffnete. Selbst seinen Inhalt konnte sie in aller Ruhe sichten, ohne irgendeine Verpflichtung einzugehen.
    Ihr Verhalten war vollkommen irrational und sie ermahnte sich selbst zur Contenance. Mit zitternden Fingern zog sie
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