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Odice

Odice

Titel: Odice
Autoren: Anais Goutier
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den Umschlag erneut hervor. Es handelte sich um ein festes, handgeschöpftes Papier mit starker Struktur, wie man es gewöhnlich nur für Hochzeitseinladungen oder äußerst bedeutende Geschäftskorrespondenz verwendete.
    Odice atmete tief ein und aus, eine geradezu dramatisch theatralische Geste angesichts der Tatsache, dass sie lediglich dabei war, einen Brief zu öffnen, der nicht einmal so wichtige Informationen wie die Absage oder Zusage einer beruflichen Bewerbung enthielt. Andererseits war ihre Situation der Bewerbungssituation vielleicht gar nicht so unähnlich.
    Der Brief war mit einem echten wächsernen Siegel verschlossen und Odice musste über dieses altertümliche Detail schmunzeln und gleichzeitig zugeben, dass ihr der Perfektionismus, der hinter einer solchen Entscheidung stand, durchaus imponierte.
    Als erstes fiel ihr ein Briefbogen in die Hände, der mit eben jener entzückend altmodischen Handschrift beschrieben war, die auch den Umschlag zierte. Es waren ausladende, geschwungene Buchstaben, groß und selbstbewusst und gleichzeitig so akkurat und von größter Regelmäßigkeit, dass die schwarze Schrift auf dem gebrochen weißen Grund vor ihren Augen zu einem äußerst kunstvollen Muster verschwamm.

    Chère Mademoiselle,

    anbei senden wir Ihnen, wie besprochen, den Fragebogen mit allen nötigen Unterlagen und Informationen. Lassen Sie sich Zeit bei der Sichtung und prüfen Sie alle Details sorgfältig.
    Sollten Sie sich anders entscheiden, so bitten wir um Ihre Diskretion, wie auch wir uns zu vollständiger Diskretion verpflichten. Bitte vernichten Sie in diesem Fall alle Schriftstücke gewissenhaft. Seien Sie versichert, dass wir unsererseits nicht erneut an Sie herantreten werden und Ihnen keinerlei irgend geartete Unannehmlichkeiten entstehen werden.
    Anderenfalls senden Sie den ausgefüllten Fragebogen bitte an das auf der beiliegenden Visitenkarte genannte Postfach. Ein Vertrag und alle weiteren Instruktionen werden Ihnen dann in Kürze schriftlich zugehen.

    Hochachtungsvoll
    Eric und Julien de Lautréamont

    Odice las die Zeilen noch ein zweites Mal. Der Brief enthielt kein einziges persönliches Wort. Nichts in diesen Zeilen deutete auf das hin, worum es hier ging. Die Sprache war verbindlich und geschäftsmäßig, wenn auch einen Hauch zu manieriert, aber in keiner Weise vulgär. Nochmals blieben ihre Augen an den perfekt ausgeformten Buchstaben hängen und sie ertappte sich dabei, wie ihr Zeigefinger den Schwung des über drei Zeilen ragenden E von Eric nachzeichnete.
    Dann legte sie den Brief beiseite und widmete sich dem mehrseitigen Fragebogen. Die ersten Fragen glichen denen einer ganz gewöhnlichen Meinungsumfrage. Sie wurde nach Alter, Körpergröße, Gewicht, Familienstand und Wohnsituation befragt. Odice überflog die erste Seite, die ausschließlich derartige Fragen zu ihrer Person und ihrer Lebensweise sowie zu ihrer Gesundheit enthielt, ohne schon einen Stift zur Hand zu nehmen.
    Die Fragen auf Seite Zwei waren dagegen schon intimerer Natur. Man wollte wissen, ob sie hetero-, homo- oder bisexuell veranlagt war, welche Formen des Geschlechtsverkehrs sie bevorzuge und wie sie ihre erogenen Zonen einschätze.
    Odice blätterte weiter und jetzt wurde ihr doch ein bisschen mulmig.

    Leiden Sie unter Platzangst?
    Sind enge Räume oder Dunkelheit ein Problem für Sie?
    Reagieren Sie panisch, wenn Sie Blut sehen?
    Sind Sie übermäßig schmerzempfindlich?

    Alle Fragen auf dieser Seite waren dieser Art und Odice’ Magen verkrampfte sich, als sie sich entschloss, auch noch einen kurzen Blick auf Seite Vier zu riskieren, ehe sie alles als dummen Scherz behandeln und im Papierkorb entsorgen würde.
    Jetzt ging es wirklich zur Sache.
    Odice musste nur die ersten beiden Fragen lesen, um alles hektisch zusammenzupacken und den Aktenvernichter im Büro zu bemühen. Doch sie hielt im letzten Moment inne. Statt zuzusehen, wie die Bögen in gehäckselte Schnipsel verwandelt wurden, schob sie alles in einen Klappordner und verstaute diesen ganz hinten im Regal.
    Sie spürte die flammende Röte in ihrem Gesicht, obwohl sie sich selbst niemals als prüde bezeichnet hätte. Sie handelte mit zeitgenössischer Kunst und sie fühlte sich nicht peinlich berührt, wenn eine Künstlerin im Rahmen einer Performance einen Zettel aus ihrer Vagina hervorzog und den darauf geschriebenen Text verlas oder wenn Künstler ihr Geschlecht und ihre Sexualität auf andere Weise zum Gegenstand und zum Objekt ihrer
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