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Odice

Odice

Titel: Odice
Autoren: Anais Goutier
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Künstlercafé an der Ecke des Boulevard Saint-Germain und der Rue Saint-Benoît, und wartete auf Pascal. Über die Kopfhörer ihres Smartphones lauschte sie mit einem Ohr Joe Cockers Now That The Magic Has Gone . Sie nippte an ihrem Café au lait und blätterte dabei in der artension , einer populären Zeitschrift für zeitgenössische Kunst. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus, als sie auf der Inhaltsseite seinen Namen entdeckte.
    Fast ein halbes Jahr war vergangen, seit sie für sechs Tage und fünf Nächte auf einem märchenhaften Loire-Schloss die Liebesdienerin und Lustsklavin der Brüder Julien und Eric de Lautréamont gewesen war; sich ohne Sicherheitsnetz und doppelten Boden in die Hände zweier wildfremder Männer begeben und ihnen für die Dauer ihres Aufenthalts jegliche Rechte an ihrem Körper übereignet hatte. Sie hatte die höchste Lust und die dunkelsten Seiten der Leidenschaft kennengelernt, hatte Qualen gelitten und die süßesten aller Wonnen erlebt.
    Die Erinnerung an ihre Zeit auf dem Château war in den letzten fünf Monaten nicht verblasst, aber sie war merkwürdig irreal, fremd, wie ein gut erinnerter und doch ganz und gar unwirklicher Traum.
    Schmerzhaft klar und präsent dagegen war die Erinnerung an Julien. In jener einen Liebesnacht mit ihm hatte sie ihm ihre Liebe gestanden und erst zu Hause war ihr klar geworden, wie ernst es ihr damit gewesen war. Sie hatte wochenlang Höllenqualen gelitten, sich jede Nacht vorgestellt, in seinen starken Armen zu liegen und in seiner tröstenden Umarmung Zuflucht zu finden.
    Jedes Mal, wenn ein Kunde die Galerie betreten hatte, jedes Mal, wenn das Telefon geklingelt hatte, hatte sie sich insgeheim gewünscht, er würde es sein. Doch er war es nie. Er hatte Wort gehalten. Und sie hatte schon damals gewusst, dass er das einmal zugesicherte Gentlemen’s Agreement niemals brechen würde.
    Odice konnte sich noch genau daran erinnern, wie er sie zu ihrem Wagen gebracht, ihren Koffer eingeladen und ihr die Tür aufgehalten hatte. Es sah so aus, als wollte er sie küssen, wie er sie in den sechs Tagen so oft geküsst hatte, doch sie hatte das Gesicht ein wenig weggedreht und er hatte die Barriere akzeptiert. Sie hatten sich mit drei Wangenküssen voneinander verabschiedet.
    Es war ihre letzte Begegnung mit Julien de Lautréamont gewesen.

    Odice musste die Tränen aus ihren Augen wegblinzeln, als sie mit bebenden Fingern zu dem Artikel mit dem Titel Un duc français à New York in der Heftmitte blätterte.

    Der aus Tours stammende Fotograf Julien de Lautréamont (33), der als Künstler auf sein Adelsprädikat verzichtet, zählt zu den aufregendsten Protagonisten am aktuellen New Yorker Kunsthimmel.

    Odice musste den kursiv gedruckten Einleitungssatz zweimal lesen, so sehr verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen. Was dann folgte war ein dreiseitiger Artikel, der aus einem populärwissenschaftlichen Beitrag und einem Interviewteil bestand, der in der Manier einer intellektuellen Homestory gestaltet war. Während die ersten Abbildungen Reproduktionen einiger seiner wichtigsten Werke waren, folgten auf den nächsten Seiten Einblicke in das New Yorker Atelier und die Pariser Privatwohnung.
    Abgesehen von den hohen Altbauräumen mit ihrer Stuckatur erinnerte hier nichts an den feudalen Charakter des Herrenhauses an der Loire. Die zwei einladend offenstehenden Flügel einer weißgetünchten Kassettentür gaben den Blick frei in einen loftartigen Wohnbereich im Bauhausstil mit weißer Le Corbusier-Sitzgruppe, auf deren Sessellehne Julien Platz genommen hatte. Schräg in den Raum hinein, zwischen der Fensterfront und dem stylishen, an einen White Cube erinnernden Kamin, ragte die berühmte Liege des gleichen Designers, neben der auf einem Stahlrohr-Beistelltisch von Eileen Gray ein Clearaudio-Plattenspieler stand. Gegen die Wand lehnte die berühmte, von Andy Warhol gestaltete LP The Velvet Underground and Nico mit der gelben Pop-Art-Banane vor weißem Grund.
    Odice musste lächeln.
    Sie las den Text, doch sie erfasste in ihrer gegenwärtigen Verfassung nur Bruchstücke davon. Dann fiel ihr Blick auf das Foto auf der letzten Artikelseite mit der Bildunterschrift Der einzige Lautréamont im privaten Domizil des Künstlers . Die Abbildung zeigte Julien in seinem gediegenen Designer-Schlafzimmer, hinter dem Bett eine großformatige Schwarz-Weiß-Fotografie, die Odice den Atem stocken ließ.
    Die Fotografie zeigte sie schlummernd in Juliens Bett. Das Gesicht
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