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Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser
Autoren: Jörg Maurer
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hinterlassen.
♫ Rätätätäng!
dröhnte die Blasmusik, und alle erhoben ihre Maßkrüge.
    »Auf General Dattelberger!«, rief Jennerwein.
    »Auf General Dattelberger!«, wiederholten alle, und die Lauscher an den umliegenden Tischen verstanden nichts.
    »Den General haben Sie erfunden, nicht wahr, Chef?«, fragte Nicole.
    Jennerwein zuckte verschmitzt die Schultern. Maria Schmalfuß hatte sich neben Polizeiobermeister Hölleisen gesetzt.
    »Eines würde mich interessieren, Franz«, sagte sie. »Rein vom psychologischen Standpunkt. Wie haben Sie das mit der
Liste aller Fremdgänger im Kurort
gemacht? Haben Sie so ein gutes Gespür für heimliche Affären?«
    »Mit dem Gespür, Frau Doktor, ist das immer so eine Sache. Nein, ich habe eine andere Technik. Wissen Sie, woran man Liebespaare erkennen kann?«
    »Keine Ahnung.«
    »An der Kinnform. Bei Liebespaaren kann alles unterschiedlich sein: die Statur, das Temperament, die Interessen – aber nach ein paar Monaten gleichen sich die Kinnformen einander an.«
    Maria schüttelte ungläubig den Kopf.
    »Schauen Sie sich einmal die Zwei am Nebentisch an. Das Ehepaar Helmbrecht. Die sind seit einem halben Jahr verheiratet. Er hat ein spitzes Kinn, und das ist bei ihr auch schon ziemlich ausgeprägt. Oder da drüben, die Heurieders. Drei Jahre verheiratet, zwei identische Knubbelkinne.«
    »Ja«, sagte Maria erstaunt, »es ist frappierend.«
    »Fremdgänger haben natürlich zunächst unterschiedliche Kinnformen, das können Sie in jeder Hotellobby studieren. Zunächst – denn nach ein paar Monaten ändert sich das dann.«
    Die Blaskapelle ratterte sich durch den Bayrischen Defiliermarsch
♫ OuouBoum bababa boum!
    »Und wieso denken Sie, dass gerade die Apothekerin und der Bauunternehmer etwas mit dem sonderbaren anonymen Brief zu tun haben?«
    »Ganz einfach: Ich bin die Liste durchgegangen und habe jeden angerufen. Alle haben ihre Affären natürlich abgestritten, den Brief hat auch niemand zugegeben. Aber die Holzmayerin und der Mühlriedl haben so maßlos übertrieben mit ihren Unschuldsbeteuerungen, dass ich mir sicher bin, dass die beiden etwas mit dem Schrottplatzbrief zu tun haben.«
    »Wenn sie es zugeben, dass sie draußen waren –«
    »Dann würden wir erfahren, was wirklich los war in dieser Mainacht.«
     
    Die Heimatwochen fanden immer Anfang August statt. Und das alte angebissene Schmalzbrot dort droben tauchte die Nacht in ein Bad von romantischer Eselsmilch. Kleine, schmeichelnde Windstößchen stupsten das Haus, die Ähren wogten sacht. Die stahlblauen Augen der Holzmayerin blickten in die tiefschwarzen vom Mühlriedl Rudi. Die beiden dachten gar nicht daran, etwas zuzugeben oder auszusagen. Allerdings bemerkten sie auch nicht, dass sich ihre Kinnformen langsam annäherten. Sie waren nicht im Bierzelt des Kurorts, dort saßen heute ihre jeweiligen langweiligen Ehehälften. Das verhinderte Liebespaar besichtigte gerade einen uralten Buick Roadmaster, den auf der B 23 bei Peiting ein Traktor seitlich erwischt hatte. Schön zerdellt und verbogen stand er da, der alte Amerikaner, und das nicht etwa beim alten Heilinger, diese Location hatten die beiden gründlich satt. Sie hatten ein neues Schmusekörbchen gefunden, nämlich eines im schönen Malerstädtchen Murnau, und dort war das Blechgerümpel natürlich chamoisegrau, der Rost war chromorange-ockerbraun, mit einem Stich olivgrün-gelblich. Verbogene Pleuel schrien grell kobalttürkis auf, Claude Monet hatte mal im Bürohäuschen des Murnauer Schrottplatzes gesessen und die Seerosen gemalt, die aus den nassen Autoleichen herauswuchsen.
    »Was sagst du zu dem Buick?«, fragte der Mühlriedl Rudi und testete die Federung der Rückbank.
    »Schaun wir mal«, antwortete die Holzmayer Veronika und streifte ihre Handtasche ab.
    »Gefällt er dir nicht?«
    Sie blickte in den Nachthimmel. Vorgestern war ein hustender Kunde in ihre Apotheke gekommen. Er war Russe, und sie hatte die Gelegenheit genutzt und ihn gefragt, was
sanschtsch
bedeutete. Der Mann schaute sie zu Tode erschrocken an. Dann griff er hastig nach der Hustensaftflasche und verließ die Apotheke fluchtartig. Ein Prickeln stieg in ihr auf. Die Holzmayerin hatte inzwischen mehr Gefallen am Schrecken als an der Liebe gefunden.
     
    »Wir wollen heute wirklich nichts Dienstliches bereden«, sagte Dr. Rosenberger am Bierzelttisch. »Ganz bestimmt nicht. Aber das möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: Wir können einen Erfolg verbuchen. Uns ist im
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