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Nybbas Nächte

Nybbas Nächte

Titel: Nybbas Nächte
Autoren: Jennifer Benkau
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was er wollte. Das, was er brauchte, wovon er lebte. Und so genoss er die Erinnerungen des Kinderschänders, wofür er sich verachtete. Sein Los als Racheengel. Er konnte nicht anders, aber das machte es kaum besser.
    Der Blick des Menschen war leer, als er von ihm abließ. Längst war der Körper zu Boden gefallen und lag auf dem Rücken, die Muskeln schlaff, der Puls nur noch ein Wispern in den Adern. Dass er auf der Brust des Todgeweihten hockte wie ein Nachtmahr, wurde dem Ilyan erst jetzt bewusst. Noch immer lag ein feines Summen in der Luft – die Präsenz der finsteren Menschenseele. Vielleicht hallte nur ihr Echo aus ihm selbst zurück. Seine Seele war kaum besser.
    Er lauschte, ob sich jemand näherte. In einer der unteren Wohnungen schwatzte eine alte Frau mit dem Fernseher, von weiter oben vernahm er den Streit eines Paares. Niemand hatte Notiz von dem Kampf genommen. Seine Hand glitt zum Schwert, doch inmitten der Bewegung hielt er inne. Das Kind musste nichtmit ansehen, wie er den Mann köpfte oder der Länge nach aufschlitzte.
    Aber er wollte es. Das Verlangen war groß. Den Kerl seelenlos am Leben zu lassen, kam nicht infrage. Keine Zeugen hinterlassen. Schließlich umfasste er erneut den Kopf seines Opfers. Ein harter Ruck, ein schmatzendes Knirschen, und dieses Leben war beendet. Er legte den Kopf so ab, dass man ihm auf den ersten Blick nichts ansah, drückte die Lider über den starren Augäpfeln zu und wischte sich die Hände am schmierigen Fußboden ab.
    Dann war er es, der erstarrte.
    Das Summen klang nicht ab. Noch immer zitterte die Luft. Er fuhr herum. Das kleine Mädchen saß in einer Ecke, eng an die schmutzigen Treppenstufen gepresst. Sie hatte die Hände krampfhaft gefaltet, als würde sie beten, und starrte ihn aus großen Augen an. Ihre Limo war zu Boden gefallen und bildete eine Pfütze zu ihren Füßen.
    „Ich glaube, der Mann war gar kein Polizist.“ Ihre Stimme war kaum zu hören. „Ist er jetzt im Himmel?“
    Der Ilyan erhob sich, machte ein paar Schritte in ihre Richtung. Die Präsenz verdichtete sich mit jedem Zentimeter. Er stöhnte auf. Wie war das möglich? Sie war verdammt noch mal ein Kind. Ihre Seele konnte unmöglich derart finster sein.
    „Vergiss ihn, der tut keinem mehr was. Brauchst keine Angst haben.“
    „Dann ist meiner Mom nichts passiert, oder?“
    Er schüttelte schwach den Kopf und ließ sich mit etwas Abstand zu ihr auf der Treppe nieder. Verflucht sei sie – es war dumm, hier Zeit zu vergeuden. Er musste seinen Körper schnappen und verschwinden, bevor noch Clerica auftauchten. Doch zunächst wollte er ihr Geheimnis lüften. Diese dunkle Aura konnte nicht die ihre sein. Erneut streckte sie die Hand zaghaft nach seinen Flügeln aus. Im Moment der Berührung zerbrach jeder Zweifel. Das Lied der schwarzen Seelen sang dumpf in seinen Knochen.
    „Ich hab keine Angst“, sagte das Mädchen. Er hätte ihr fast geglaubt. „Du bist gekommen, um mich zu retten. Grandma hatte recht. Ich habe einen echten Schutzengel, wie sie gesagt hat.“
    Er lachte freudlos auf. „Nee, vergiss das schnell wieder. Annie … so heißt du, richtig?“
    Sie nickte und in ihren Augen funkelte ein Sternchen aus Enttäuschung. „Aber du bist doch ein Engel.“
    „So etwas in der Art. Aber ich war nur zufällig hier. Du hast einfach verfluchtes Glück gehabt.“
    „Du redest gar nicht wie ein Engel. Wie kannst du denn reden, wenn deine Lippen sich nicht bewegen? Warum hast du diese Maske im Gesicht?“
    „Keine Ahnung. Ist vielleicht besser so.“
    Sie zupfte an einer Feder und verengte die Lider. „Und deine Flügel sind hart und nicht weich wie bei Vögeln. Kannst du überhaupt fliegen?“
    Ihre Neugier, gepaart mit der Gewissheit, wie verloren sie war, berührte etwas in ihm. Er rang mit dem Impuls, ihr übers Haar zu streichen, tat es aber nicht. „Ja, kann ich. Aber nicht in diesem Körper. Die Flügel sind nutzlos. Sie sind nur im Weg.“
    Sie atmete lautstark ein, runzelte empört die Stirn. „Gar nicht wahr. Sie sind wunderschön! Wenn ich solche Flügel hätte, würden alle staunen. Ohne sie wärst du nur ein halb so schöner Engel.“
    Jetzt konnte er nicht mehr anders, als die Hand nach ihr auszustrecken. Seine weiße Haut bildete einen faszinierenden Kontrast vor ihrem nussbraunen Haar. Das lockende Summen wandelte sich mit der Berührung zu Energie. Es schoss in seine Finger, lief durch seinen Arm und verlor sich erst in seiner Brust. Endlich begriff er. Ihre
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