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Nybbas Nächte

Nybbas Nächte

Titel: Nybbas Nächte
Autoren: Jennifer Benkau
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Seele war nicht mit Schwärze gefüllt. Aber auch mit nichts anderem. Sie war leer. Vollkommen leer, als hätte dieses Kind keine Seele, sondern stattdessen ein schwarzes Loch in seinem Inneren. Was nicht möglich war.
    „Hast du gehört, was ich zu dem bösen Mann gesagt habe, Annie?“ Er war nicht sicher, ob es Erschütterung oder bloß morbides Interesse war, das seine Stimme dünn werden ließ. „Dass ich ihm die Seele wegnehmen musste, hast du das verstanden?“
    Sie schluckte, nickte und senkte den Blick.
    „Du hast das schon einmal gehört, oder? Ich bin nicht der Erste, der so etwas sagt.“
    Sie flüsterte: „Ich darf das nicht verraten.“
    „Doch, darfst du.“ Er musste sich beherrschen, sie seine Erregung nicht spüren zu lassen. „Ich bin ein Engel, schon vergessen? Der … Herr von ganz oben schickt mich, damit ihr Menschen mir alles sagen könnt, was sonst keiner erfahren darf.“ Großartig, jetzt erzählte er schon Märchen vom lieben Gott. Langsam wurde es lächerlich. Aber Lügen waren sein Metier, und nun zählte allein die Antwort.
    „Da war eine Frau“, begann sie. „Ich glaube, sie war auch ein Engel, denn sie war so schön. Sie kam vor ein paar Wochen, als mein kleiner Bruder David ganz schlimm krank war. Ich saß auf der Schaukel im Park und hab geweint, weil David im Krankenhaus bleiben musste. Wir hatten alle Angst, dass er sterben würde.“
    Sie zog die Nase hoch, wischte sie dann mit den Fingerrücken ab und vergrub ihre kleine Hand in der seinen. Die nächsten Worte entgingen ihm. Einerseits, weil er unbewusst seine zweite Hand schützend über ihre feuchten, klebrigen Finger gelegt hatte. Er wusste nicht, warum. Andererseits musste er gegen den Drang ankämpfen, sie von sich zu stoßen. Ihre Leere sandte ihm elektrische Impulse durch Mark und Bein, die in jedem Knochen schmerzten. Gut, dass seine Miene starr war, ansonsten hätte er das Gesicht verzogen. Er kämpfte mit sich, hielt es aus und konnte sich endlich auf ihre Worte konzentrieren.
    „… wollte ihn wieder gesund machen, aber sie sagte, sie bräuchte dazu meine Hilfe. Ich sollte ihr versprechen, dass sie meine Seele haben darf, wenn ich alt genug bin.“
    Er keuchte auf. „Wann? Sag mir, wann das passieren soll, Annie.“
    „Wenn ich groß bin. Bis dahin soll ich schön brav bleiben, hat die Frau gesagt. Und tun, was meine Eltern sagen.“
    „Fuck!“
    Sie kicherte trotz der Tränen in ihren Augen und entblößte eine breite Lücke in den Reihen ihrer Milchzähne. „So was sagen Engel eigentlich nicht.“
    „Warum hast du das gemacht, Kleine?“ Die ungewollte Schärfe seiner Stimme ließ das Kind zusammen-schrecken. „Hast du eine Ahnung, was du da verkauft hast?“
    Ihre Unterlippe begann zu zittern. „N-nein. Bis ich groß bin … das ist doch noch so lange hin. Ich musste David helfen. Und der Frau auch. Sie tat mir so leid.“ Ein Schluchzen schüttelte ihren Körper, die kleine Hand krallte sich um seine Finger. „Hab ich etwas Falsches gemacht? Ist Gott jetzt … böse auf mich?“
    „Blödsinn, Annie.“ Er mahnte sich zur Ruhe. „Keine Angst, ist schon gut. Keiner ist böse auf dich, alles cool. Erklär mir nur eins: Warum musstest du der Frau helfen?“
    Die Augen des Mädchens verengten sich trotzig, erneut zog sie heftig die Nase hoch. Ein Funken uralter, unmenschlicher Wut flammte in den blauen Augen auf. „Jemand hat eines ihrer Kinder getötet. Ein Verräter. Sie sagte, sie muss ihn suchen und bestrafen, aber dafür braucht sie viele Kinder, die ihr helfen, stark zu bleiben.“
    Der Boden schien sich unter ihm aufzutun. Er fiel in eiskaltes Wasser aus Gedanken ohne Zusammenhang. Im Moment des Luftholens gefroren sie zu einem Stück Erkenntnis, das ihn in seiner Mitte einschloss und ihm jede Regung verbot.
    Die Gerüchte waren wahr. Legenden würden sich mit der Realität vermischen.
    Der erste Fürst bereitete die Jagd vor.

2
    S
eltsam, wie schnell die Fassade einer heilen Welt durch ein einziges, triviales Geräusch zerstört werden und in Scherben niederfallen konnte.
    Joana wusste nicht, warum das Klopfen an der Haustür sie so erschreckte. Vielleicht war es die Art, mit der Nicholas aufsah. Die ihr vertraute Weise, mit der er Gleichgültigkeit nach außen kehrte, sobald ernsthaft Grund zum Gegenteil bestand. Während seine Gesichtszüge ruhig blieben, nahm der Dämon die Witterung auf.
    Ohne ein Lesezeichen hineinzulegen, klappte Joana ihr Buch zu und ließ es aufs Sofa sinken. Sie
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