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Nur Mut: Roman

Nur Mut: Roman

Titel: Nur Mut: Roman
Autoren: Silvia Bovenschen
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auf.
    »In diesem Fall«, sagte die Kleine, »fungiere ich als Sprecherin für den stummen Pluto. Du musst wissen, Pluto, der edelmütige, hat sich einzig deinetwegen hierherbemüht. Und das musst du zu würdigen wissen, da das Laufen ihm so schwerfällt.«
    Sie tätschelte die eingefallene Flanke des großen Tieres.
    »Der Gute hat erspürt, wie sehr du dich in der eigenen Trauer verloren hast. So eine tiefe Trauer, wie die, in die du gestürzt wurdest, ist eigentlich nicht mehr mit dieser Welt verträglich. Sie hat dich tief verschattet, sie versiegelte dich, verschloss dir den Zugang zu den Lebewesen – für sie hattest du nur noch deine Höflichkeit und eine geformte Freundlichkeit.«
    Sie unterbrach und betrachtete Leonie nachdenklich, aber sie konnte die Wirkung ihrer Worte nicht ermessen, da diese den Kopf gesenkt hielt und unverwandt auf ihre Schuhe starrte.
    Die Kleine sprach weiter. »Aber die Intensität dieser Trauer kann, das habe ich auch erst kürzlich gelernt, zugleich eine schmale Öffnung in die Gefängniswände deiner Welt sprengen, nein: einen kleinen Spalt, nein: einen Riss, ach, ich weiß ja auch nicht, wie auch immer ich das benennen könnte, jedenfalls einen geheimen Zugang zu anderen Sphären, ich sag jetzt einfach mal – nur damit du eine Ahnung bekommst, wovon ich spreche – ins Planetarische. Aber diesen Weg hast du auch nicht gefunden, du Arme.«
    »In jedem Leben gibt es so eine Glücksblindheit«, sagte der rundliche Herr weise.
    »Geht das noch lange so?«, fragte der Schwan.
    »Okay«, sagte die Kleine, »ich kürze ab. In dieser Trauer wirkt ein fremder, ganz unirdischer Stoff. Diese tiefe Trauer, die weit mehr ist als nur ein Gefühl, weit mehr als ein psychophysischer Tiefgang, weit mehr als ein biochemischer Ernstfall, diese Trauer, die dich durchflutet, die in alle deine Poren dringt, die nicht nur Seele und Hirn regiert, die auch dein Fleisch, deine Sehnen, deine Säfte, deine Muskeln, deine Wahrnehmung tränkt, hat einen besonderen Geruch, für den die menschliche Nase nicht zuständig ist.
    Diese Trauer kann mein Pluto riechen. Darin ist er noch Gott und doch auch ganz Hund. Er ist stumm, kann nicht mehr viel sehen und ist auch ein wenig schwerhörig, aber sein Geruchsinn ist kolossal, ja exorbitant.«
    Die Kleine war sichtlich stolz, dieses fremde Wort in ihrem Vokabular gefunden zu haben.
    »Mein Pluto wird dir in seiner unermesslichen Güte die letzte Strecke ein Tröster sein. Aber nur, wenn du das willst.«
    »Ich will«, sagte Leonie tonlos.
    »Kannst du noch irgendetwas hoffen?«
    »Nein.«
    »Möchtest du noch etwas sagen?«
    »Nein.«

    Charlotte, Johanna und Nadine hatten fasziniert zugehört.
    Der Schwan hingegen wirkte gelangweilt, er hatte mehrfach demonstrativ gegähnt, und auch der rundliche Herr hatte sich nicht sonderlich für den Wortwechsel interessiert. Er stand immer noch an gleicher Stelle, hatte sich keinen Schritt gerührt und sah sich mit dem Hut in der Hand um. Missbilligend studierte er die Verwüstungen.
    Charlotte erinnerte sich plötzlich an ihre gastgeberische Pflicht.
    »Möchten Sie sich nicht setzen?«, sagte sie zu dem rundlichen Herrn.
    »Wenn es genehm ist«, sagte der und zog einen Sessel heran. Bevor er sich setzte, besah er genau die Sitzfläche, ob sich dort nicht Glassplitter oder verdächtige Pfützen befänden. Nachdem er offensichtlich zu einem günstigen Befund gekommen war, legte er seinen Hut auf die gepolsterte Armlehne, setzte sich und schlug die Beine übereinander.

    Die Kleine klopfte energisch dreimal mit dem Schäufelchen auf den Tisch.
    »Ich bitte um Aufmerksamkeit.
    Ich komme jetzt zu meinem zweiten Auftrag«, sagte sie würdevoll. »Er betrifft dich, Nadine. Da du die ganze Zeit schon so panisch auf meine blaue Schaufel starrst, wie ein hypnotisiertes Kaninchen, nehme ich an, dass du dir das denken kannst.«
    »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich denken soll«, sagte Nadine klamm.
    »Ich hingegen glaube, du erinnerst dich genau. Mein kleiner Sandhaufen hat dich erschreckt. Tse, tse, tse. Aber, aber. Wer wird denn da gleich so ausrasten.«
    Nadine wollte etwas erklären, aber die Kleine würgte das ab.
    »Ja, ja, dein Vater, ich weiß, ist schon klar. Das Entsetzen hat dir viele Fesseln angelegt. Du hast dich versteckt, hinter den sieben Kleidern, in den sieben Betten deiner Ehemänner und Liebhaber und auf den Schickimickipartys. Du siehst, ich bin randvoll mit Kindesweisheit. Immer hast du ein Versteck
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