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Nur Mut, liebe Ruth

Nur Mut, liebe Ruth

Titel: Nur Mut, liebe Ruth
Autoren: Marie Louise Fischer
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verloren!“
    „Nur keine Bange, Silvy. Ich
habe mir die nächste Stunde dazugeben lassen. Ihr braucht euch also nicht zu
beeilen.“
    Die Mädchen murrten ein
bißchen, denn immer, wenn Frau Dr. Mohrmann die Aufsatzhefte aus dem
Klassenschrank holte, fühlten sie sich überrumpelt. Aber während der
vorausgegangenen Diskussion über den Unterschied zwischen Furcht und Angst war
den meisten etwas zum Thema eingefallen, und so flitzten die Federn schon
wenige Minuten später eifrig über das Papier.
    Nur Ruth, von der man hätte
glauben sollen, daß ihr das Herz am vollsten gewesen wäre, saß da, den Kopf in
die Hände gestützt, und starrte verzweifelt ins Leere.
    Als sie eine gute Viertelstunde
später immer noch kein einziges Wort zu Papier gebracht hatte, trat Frau Dr.
Mohrmann leise hinter sie. „Na, Ruth“, sagte sie, „will es denn gar nicht
gehen?“
    Die Kleine seufzte abgrundtief.
„Wenn man nur immer wüßte“, flüsterte sie, „ob man Grund hat, sich zu fürchten,
oder ob man einfach nur ängstlich ist.“

    „Zerbrich dir darüber nur nicht
den Kopf, sondern schreib einfach darauf los. Im täglichen Sprachgebrauch
unterscheidet man gar nicht so genau zwischen den beiden Begriffen.“
    Ruth sah aus weit offenen
grasgrünen Augen zu Frau Dr. Mohrmann auf. „Das meine ich ja gar nicht“, sagte
sie, „sondern überhaupt!“
    Die Lehrerin lächelte ihr
ermutigend zu. „Ich verstehe dich gut, Ruthchen, und es ist sicher sehr
nützlich für dich, dir einmal Gedanken darüber zu machen. Nur nicht gerade
jetzt. Jetzt wäre es besser, du würdest dich auf den Aufsatz konzentrieren.
Sieh dich um, die anderen sind schon mitten drin.“
    Ruth holte tief Luft, gab sich
einen sichtbaren Ruck, setzte ihre altklügste Miene auf, die ihr möglich war,
und schrieb den Beginn ihres Aufsatzes auf Schmierpapier: „Unser Leben ist
voller Gefahren...“
    Frau Dr. Mohrmann las es über
ihre Schulter, lächelte in sich hinein und schritt wieder nach vorne.
    Niemand außer Ruth selber hätte
geglaubt, daß sie ein gefährliches Leben führte. Nach außen hin sah das ganz
anders aus. Da war sie die einzige Tochter des Friseurmeisters Kleiber, eine
Nachzüglerin noch dazu, denn ihr Bruder Günther war schon erwachsen und dachte
nicht daran, wie Olgas Brüder es taten, seine kleine Schwester zu ärgern,
sondern er wetteiferte mit den Eltern darin, sie zu verwöhnen.
    Von klein auf war Ruth umhegt
und gepflegt, umsorgt und verhätschelt worden, Vater, Mutter und Bruder hatten
ständig darüber gewacht, daß ihr auch nur ja kein Härchen gekrümmt wurde.
Solange Ruth klein gewesen war, war Frau Kleiber sogar ständig zu Hause
geblieben, damit Ruth nie ohne Aufsicht blieb, und das war ein wirkliches Opfer
für die sehr lebendige Frau gewesen, die ihren Beruf liebte und sich nur
richtig wohl fühlte, wenn sie mit recht vielen Menschen zusammenkam.
    Ruth konnte das nicht
verstehen. Der elterliche Frisiersalon gefiel ihr zwar sehr gut mit seinen
schimmernden Spiegeln, blanken Trockenhauben und den Haarwaschbecken in Rosa,
Hellgrün und Blau.
    Sie freute sich an den
eleganten Formen der Tiegel und Flaschen und schnupperte gerne all die süßen
und betäubenden Gerüche. Sie konnte stundenlang stillhalten, wenn die Mutter
eine neue, hochmoderne Frisur an ihr ausprobierte.
    Nur etwas störte sie ganz
gewaltig, und zwar gerade das, was die Mutter so liebte: die vielen Menschen,
die ein- und ausgingen, die Ladentüre klingeln ließen und ihre Sorgen und
Wünsche vorbrachten.
    Ja, an der Hand der Mutter fiel
es nicht schwer, ihren Knicks zu machen, ein paar alberne Fragen zu beantworten
und sich bewundern zu lassen, aber wenn sie allein einer fremden Dame
gegenüberstand, dann verschlug es ihr die Sprache.
    Die Mutter verstand das nicht
und versuchte es immer wieder aufs neue, ihr Mut zu machen. „Bitte, geh doch
mal zu Frau Neumann... sie ist die dritte von links... und frag sie, ob es ihr
recht so ist unter der Haube oder ob du sie kühler stellen sollst!“ bat sie zum
Beispiel.
    Dann sagte Ruth: „Ach nein,
Mutti, bitte nicht...“
    „Aber warum denn nicht?“
    „Ich trau mich nicht!“
    „Da gehört doch kein Mut dazu,
Liebling, versuch’s nur mal! Wir sind doch alle bei dir!“
    „Aber ich kenne die Frau doch
gar nicht.“
    „Macht nichts. Sie kennt dich
bestimmt.“
    So ging es hin und her, und
manchmal raffte Ruth sich sogar auf und lief zu der Dame unter der
Trockenhaube. Doch das nützte nichts, sie brachte kein
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